7. April 2020 Doris Schöni 0Comment

Sie waren etwa gleich alt und starben beide früh an Krebs. Das ist die einzige Gemeinsamkeit der beiden Frauen.

K. war sehr gross, kräftig, sportlich, laut und intelligent.

M. war klein, schmächtig, magersüchtig, leise und intelligent.

K. fiel in der Masse auf, sie beanspruchte viel Raum und zog die Aufmerksamkeit auf sich.

M. verschwand in der Masse, machte sich kleiner als sie war und wollte ja nicht auffallen.

K. stammte von einem Bauernhof und bestand problemlos die Matur.

M. stammte aus einer Lehrerfamilie und verliess freiwillig das Gymnasium vor der Matur.

K. studierte Philosophie, arbeitete nach dem Studium als Journalistin, entdeckte später die Anthroposophie und beendete ihr Leben als anthroposophische Kunsttherapeutin.

M. liess sich zur Anästhesie-Assistentin ausbilden, arbeitete kurze Zeit in diesem Beruf und wirkte später an der Kasse eines Einkaufszentrums, an der sie total versagte.

K. war lesbisch und lebte zusammen mit ihrer Freundin, einer Psychiaterin. Treue war nicht K.s Stärke.

M. heiratete und gebar drei Töchter, was man sich schlecht vorstellen konnte. Immer wieder holte die Anorexie sie ein. Sie war eine liebevollere Mutter als Gattin.

K. reiste umher, ritt, spielte Squash, kletterte auf Berge und fuhr Fahrrad.

M. beängstigten Reisen, sie spielte Klavier, sang (auch in einem Chor) und fuhr Fahrrad.

K. war in jungen Jahren trinkfest, einmal kollabierte sie und starb beinahe. Von da an trank sie nur noch Biowein.Sie rauchte mit grossem Genuss Zigarren.

M. ertrug keinen Alkohol, am liebsten trank sie Himbeersirup und ganz hellen Milchkaffee. Mit einem ständig schlechten Gewissen rauchte sie hin und wieder eine Zigarette.

K.verfügte über Bärenkräfte. Sie kaufte mit Freunden eine alte Schule und hob deren Keller aus.

M. verbrachte viel Zeit in Kliniken. In der untersten Klasse der Krankenkasse musste sie jeweils ein Zimmer mit drei Frauen teilen.

K. hatte ein harmonisches Verhältnis mit ihren Eltern und Geschwistern.

M. ihre Mutter hasste und verprügelte sie noch im Erwachsenenalter. Was ging in ihrem Gehirn vor, als M. am Klavier, das in ihrem kleinen Haus im Keller untergebracht war, zitternd vierhändig Mozart spielte? Ein maskenhaftes, erstarrtes, verachtendes Gesicht, verbittert blickte es geradeaus.

K. schrieb wenige Tage vor ihrem Tod einen Abschiedsbrief an ihre Freunde. Sie war sich ihrer Endlichkeit völlig bewusst. Für sie bedeutete der Tod keine Niederlage. Ihre Lebensfreude, ihre Neugierde, ihr Staunen und ihre Empathie nahm sie mit sich.

M. im alltäglichen Leben eher hypochondrisch, akzeptierte sie ihre todbringende Krankheit von Anfang an als eine Art Bestrafung. Im Unterschied zu den jeweils eingebildeten Krankheiten bagatellisierte sie den bösartigen Tumor, er gab ihr die Kraft, mit ihren drei noch jugendlichen Töchtern ihre Hinterlassenschaft zu regeln.

K. und M. starben zu jung, um den in Todesanzeigen so beliebten Satz „nach einem reich erfüllten Leben“ zu verdienen. Ihre Leben waren unvollendet und nur teilweise erfüllt. Was dachten sie während des Sterbens? Fühlten sie die Nähe des Todes? Hat der Tod einen Geruch und ist er von Lärm oder Musik begleitet? Spricht er wie ein Roboter? Rauchte K. während des Sterbens mit Genuss eine Zigarre? Und nippte M. dabei an ihrem geliebten Himbeersirup?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert