16. Januar 2022 Doris Schöni

Mit Schmerzen in allen Gliedern wälzt man sich gegen Mittag aus dem Bett. Die heisse Dusche lindert das Gliederreissen nicht. Kaffee, Medikamente und Zeitungen folgen. Eine Einkaufsliste wird vervollständigt. Mühsam zieht man einen Mantel über, geht aus dem Haus etwa bis zum Gartentor, erinnert sich, den Autoschlüssel zu benötigen, kehrt ins Haus zurück, reisst im Vorbeigehen eine Tüte mit Sonnenblumenkernen mit sich und auf den Boden, schliesst das Haus erneut, das Schloss klemmt. Ächzend bückt man sich ins Auto und legt den Rückwärtsgang ein. Spitze Äste kratzen an der Karosserie. In der Einstellhalle des Einkaufszentrums quetscht man sich aus dem…

12. Januar 2022 Doris Schöni

Hans ist ein Pechvogel. Am Abend vor seiner Hochzeit verlässt ihn seine Braut. Sie sagt – unschweizerisch – „tschüss, ich verreise nach Kuba und heirate einen Schwimmlehrer“. Für Hans, den Bauern, bricht die Welt – seine – in Stücke. „Warum tust du mir das an?“ fragt er, lässt sie gehen, hält sie nicht zurück und weint bitterlich. Dann setzt er sich nieder und sinnt auf Rache. Seine Vorstellungskraft ist nicht besonders gross, doch er sieht das Flugzeug abstürzen und lichterloh brennen. Auf dem Trümmerfeld liegt seine fast-Gattin – in Stücke gerissen – als ob sie gevierteilt worden wäre. Entsetzt über…

11. Januar 2022 Doris Schöni

Die hundertfunfundzwanzig Jahre alte Meeresschildkröte, genannt Marie, freundet sich mit dem jungen Möwenmännchen Uriel an. Die beiden begegneten sich oft im seichten Wasser in der Nähe des Strandes, an dem sich Touristen tummelten. Die Schildkröte wagt, die Möwe anzusprechen: „Ich bin Marie“. Das Möwenmännchen hüpft erschrocken zur Seite. Marie bemerkt, dass der Jungvogel etwas schief steht, also behindert sein muss. „Ich heisse Uriel“, kreischt die Möwe, denn die Dunkelheit beginnt. Sie hören Kinderstimmen, die sich nähern. Als die Jugendlichen die Schildkröte bemerken, johlen sie „O, eine Schildkröte“. „Hol sie raus, Fritz“, bittet der Kleinste den Grössten. „Und wenn sie beisst?“,…

4. Januar 2022 Doris Schöni

Frau Holle ist in die Jahre gekommen. Im Winter plagen sie schreckliche Schmerzen in den Gelenken. Wenn sie am offenen Fenster ihre Betten ausschüttelt,  so dass es auf Erden schneit, weint sie vor Pein und ihre Tränen gefrieren und fallen als Brillianten auf den irdischen Boden. „Ich mag nicht mehr“, klagt sie ihrem Freund, dem Erdmännchen. „Ich wandere in den Süden“. Mit einigen Kopfkissen und drei Duvets macht sie sich auf den Weg gen Süden. In Italien ist es bereits wärmer, aber die Einwohner sind zu laut für Frau Holles Nervenkostüm. Aus zwei Duvets lässt sie es schneien, die Einheimischen…

3. Januar 2022 Doris Schöni

Die Geschichte von David und Goliath? Es geht dabei um den Hirtenjungen David, der den Riesen Goliath besiegte. Er tötete den Unbesiegbaren mit einer Steinschleuder. David, zu jenem Zeitpunkt 37-jährig, wurde um 1000 v. Chr. in Bethlehem geboren. Auch noch heute gibt es Davids und Goliaths, sie haben sich einfach ans 21. Jahrhundert angepasst. Sie kennen sich nicht, aber kreuzen sich fast täglich an derselben Strasse und zur selben Zeit. Der kleinwüchsige David in einem verbeulten Topolino, der –  nicht wie sein Vorfahre drei Meter lange -, sondern nur bescheidene einen Meter und siebenundneunzig grosse – Goliath sitzt ebenfalls in…

31. Dezember 2021 Doris Schöni

In einem Land, das noch erfunden oder gefunden werden müsste, leben fünf Schweine-Familien zusammen. Sie haben ein glückliches Leben, nur wenige Metzger entdecken dieses Paradies, und kommt dennoch einer vorbei, so schlachtet er nur die Menge, die er benötigt. Solche Vorkommnisse sind jedoch selten und die Schweine-Gemeinde lebt in Frieden. Eines Tages bemerken die Paarhufer, dass eine unbekannte Kreatur ihr Paradies durchwandert hat. Zuerst fürchten sie, es sei ein Metzger oder Jäger, doch sind dann erlöst und auch beeindruckt, als sie eine himmelhohe Giraffe entdecken, die durch die Felder um ihre Behausungen streift. Die Vorsitzenden der fünf Familien – alle…

27. Dezember 2021 Doris Schöni

Wie die meisten Lebewesen möchte der Hase sich in seinen ärgsten Feind verwandeln, die Kreuzotter. Eine Kreuzotter wird maximal 85 Zentimeter gross. Sie hat einen zickzackartig gemusterten Rücken, seitlich ist sie gefleckt. Die Grundfarbe darunter ist sehr verschieden und reicht von beige über braun bis gelb oder rötlich. In manchen Regionen gibt es Populationen, die nahezu schwarz sind. Neben dem gezackten Muster sind bei dieser Schlange auch die Augen besonders markant. Sie sind kupferrot und haben senkrecht geschlitzte Pupillen. Der Hase, ein gewöhnlicher Feldhase, übte sich im lautlosen Schleichen, wobei er – was sehr schwierig war – ständig züngelte. Er…

25. Dezember 2021 Doris Schöni

Während langer Zeit besuchten sich Esel und Hunde regelmässig und waren freundschaftlich verbunden. Dann drifteten die beiden Institutionen auseinander. Die Hundegemeinschaft investierte reichlich Zeit und Geld in die körperliche und intellektuelle Förderung ihrer Tiere, die Eselverantwortlichen sahen keine Notwendigkeit, die Esel geistig  zu unterstützen. Der Paradigmenunterschied zwischen der Gemeinschaft der Hunde und jener der Esel führte zu einer Entfremdung von Hunden und Eseln. Sie besuchten sich nicht mehr. Die Eselbetreuer verfolgten das Ziel, die Grautiere wieder in den Urzustand zurückzuversetzen, sie unterzogen sich der neuen Welle von „zurück zur Natur“. Die Hundeverantwortlichen strebten gerade das Gegenteil an: Den Hunden wurd…

23. Dezember 2021 Doris Schöni

Mysterien der Natur – oder sollte man sagen: Launen?  Aus einem Doppelei schlüpften Zwillingsentchen, männlichen Geschlechts. Zusammen mit acht Geschwistern wuchsen sie in einem kühlen Sommer auf. Die Zwillinge liessen sich nie aus den Augen, aber sie zankten sich, je älter sie wurden. Ihre Mutter versuchte, sie bei Streiterien zu trennen, bekam dabei aber immer öfters Schnabelhiebe. Ende des Sommers lösten sich die Grossfamilien auf, der nunmehr erwachsene Nachwuchs zog aus, um eigene Reviere zu finden. Lediglich die Zwillingsbrüder blieben bei der Mutter. Sie verhielten sich weiterhin wie Entenkinder, stritten sich, bekämpften sich, verletzten sich gegenseitig. Andererseits entwickelten sie die…

19. Dezember 2021 Doris Schöni

Es war einmal ein Höfling einer Kaiserin, der zwei verschiedene Ellen zur Beurteilung von neuen Mitarbeitern am Hof einsetzte. Die Kaiserin liess ihn gewähren. Zu jener Zeit waren Mauscheleien, Favoritismus, Intrigen, politische Morde an Kaiserhöfen üblich. Dem Höfling namens Jonathan wurden viele neue Bewerber für ein Amt am Hof empfohlen. Meistens kamen diese Empfehlungen von Freunden, Bekannten, aber auch von falschen Freunden und Bekannten. Jonathan war sehr empfänglich für  Schmeicheleien von Bewunderen, die danach strebten, ihm seine Charge abzuluchsen. Man wusste um seinen Einfluss auf die Kaiserin, deshalb kursierten etliche Intrigen gegen ihn. Jonathan war berüchtigt, ein hervorragender Buchhalter zu…