Die NZZ am Sonntag vom 8. Juli 2018 berichtet, dass Bibliotheken obsolet werden (oder bereits geworden sind). Sie werden von den elektronischen Medien ersetzt. Bedenkt man, dass es Bibliotheken seit fast 2000 Jahre v. Chr. gibt, so ist man entsetzt, dass sie innerhalb von wenigen Jahren ein so brutales Ende finden.
Wikipedia skiziert die Geschichte der Bibliotheken: Bereits die alten Ägypter besassen grosse Büchersammlungen, aus denen die Papyrusrollen bekannt sind, welche auf bis zu 1866 v. Chr. datiert werden. Sogenannte „Lebenshäuser“ waren auf die Vervielfältigung und Aufbewahrung wissenschaftlicher und religiöser Werke spezialisiert. Auch die in den Ruinenstädten von Assyrien und Babylonien entdeckten Tafeln und Zylinder mit Schriftzeichen sind Überreste einer Art von Bibliotheken. Im 1180/70 v. Chr. zerstörten Ugarit wurde 1928 eine Palastbibliothek gefunden.
Wer nie in einem Bibliothekslesesaal gearbeitet hat, also nicht weiss, wie es ist, Büchern physisch zu begegnen, sie zu berühren, zu riechen, ihre Provenienz zu erahnen, sich vorzustellen, wer sich mit ihnen befasst hat, ist vielen Emotionen verlustig gegangen. Wer nie Kontakt mit einer Jahrhunderte alten Handschrift, ob als Pergament oder Papier, gekommen ist, kann sich möglicherweise mit einer elektronischen Kopie zufrieden geben.
Der Autor des NZZ-Artikels, Pius Knüsel, meint: „Wo früher Buchrücken als Symbol von Bildung und Zivilisationsbewusstsein prangten, hängt heute Kunst“. Dem könnte man widersprechen: Wo keine Buchrücken mehr prangen, hängt auch keine Kunst. Wenn heute der TV-Schirm eine ganze Wand einnimmt, hat es weder Platz für Bücher noch für Kunst. Knüsel zitiert den Leiter der ETH-Bibliothek in Zürich, Rafael Ball, der aussagt: Im Prinzip brauche es keine Bibliotheken mehr. Die gesamte Literatur sei über kurz oder lang im Internet greifbar, günstiger als gedruckt, ja umsonst. Bibliotheken müssten sich zu Kommunikationszentren umformen, zu Trainings- und Beratungsstellen, wo man lerne, im Internet richtig zu suchen, in dieser rohen Masse von Textmaterial. Das wäre eine neue Funktion für Bibliothekare, die dann keine Bibliothekare, früher wandelnde Lexika, mehr sind. Sie müssten zu einer Art Roboter mutieren, die unwissenden Grünschnäbeln das Alphabet beizubringen versuchen.
Das Bild verdränge auch im öffentlichen Raum das Buch, schreibt Knüsel. Das stimmt. Anstatt Hinweistafeln mit Texten, übernehmen Bildchen deren Funktion. Emojis imitieren Gefühle, weil der Mensch nicht mehr imstande ist, diese Gefühle auszudrücken. SMS werden nicht nur in Dialekt, sondern auch in grob verkürzter Form verfasst. Um es pessimistisch zu sagen: Worte werden nicht mehr verstanden, standardisierte Bildchen müssen her. Piktogramme helfen in allen Lebenssituationen. Das Schlimme an diesem „Fortschritt“ ist: Er ist ein Rückschritt. Erinnern Sie sich an Fresken in Kirchen, die unter den Bildern Spruchbänder zeigen? Als Spruchband bezeichnet man in der mittelalterlichen Malerei Texte in Form von flatternden Bändern, die das gesprochene oder gesungene Wort darstellen sollen. Sie entsprechen Sprechblasen in Comics. Im Mittelalter (6. bis 15. Jahrhundert) waren sehr viele Menschen des Lesens und Schreibens nicht kundig. Die Fresken erzählten den Unkundigen die biblische Geschichte – die Schriftbänder (meist auf Lateinisch) waren für die Kundigen bestimmt.
Kehrt der Mensch des 21. Jahrhunderts zur sogenannten Bilderschrift zurück? Realisiert er das falsch gedeutete Zitat: „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ (vom amerikanischen Werbefachmann Frederick Barnard) ohne darüber nachzudenken, dass sich das Wort mit anderen Worten, mit Millionen von Worten verknüpft? Aber: Worte muss man lernen, lesen, verstehen. Das ist das heutige Problem.