12. März 2023 Doris Schöni 1Comment

Meine greise Grossmutter pflegte zu sagen: „Ich fühle mich wie ein Fels in der Brandung“. Sie meinte damit, dass sie als Einzige übrig bleibe inmitten der vielen Toten in ihrem Umfeld.

Noch habe ich ihr hohes Alter nicht erreicht. Trotzdem verdunkeln die vielen Tode mein Gemüt und drücken mich nieder. Und allen Abscheu verdrängend denke ich an Magda Goebbels, die alle ihre sechs Kinder umbrachte, weil sie „zu schade“ für die Zeit nach dem Nationalsozialismus gewesen wären. Vielleicht denkt das jeder alte Mensch: „Die Zeit nach meiner Zeit wird schrecklich sein“. Um sich selber aufzuwerten. Ich denke oder mutmasse ebenso und stelle mir die nächsten hundert Jahre als noch materialistischer und technisierter vor, in denen die Geisteswissenschaften abgeschafft, die sogenannte künstliche Identität im Besitz der ehemals intellektuell Schwachen monopolisiert sein wird, ein Jahrhundert voller Brutalität und Ignoranz. Ein Alterstrostpflaster? Ein Placebo? Der Beginn einer Demenz? 

Wann hat der Reigen der Todestänzer angefangen? Mir scheint, er habe mit dem Tod der letzten der mir überlassenen vier Katzen begonnen. Mein Hund, meine Hündin, die meinem Leben einen Sinn gegeben hat, kam kurz zur Grablegung des uralten schwarzen Kätzchens, ich erinnere mich, ihr zugeflüstert zu haben „du bleibst doch noch etwas bei mir“. 

Doch dann zog der Totentanz bei mir ein. „Il a fait le vide autour de moi“, würde meine geliebte Freundin sagen, würde sie noch leben. Auch sie wurde – einige Zeit nach meiner Hündin – zum Totentanz aufgefordert und willigte in den Tanz ein. Ich verwarf diesen Abschied, weil ich ihn einfach nicht ertrug. Wie konnte sie mich nach vierzigjähriger, inniger Freundschaft verlassen, sie, die mich soviel gelehrt hatte? Bei ihrer sogenannten „Abdankung“, der sie vollziehende Priester entlockte bei der Trauergemeinde viele Lacher, sass ich geduckt ganz zuhinterst, erschien plötzlich ihr Lieblingsschwiegersohn, bereits dem Tod geweiht, er legte seine Hand auf meine rechte, und verschwand, „mir geht es nicht gut“ murmelnd sehr schnell. Nun hat auch ihn der Tod erwischt, sein zweites Herz, das ihm fast zehn zusätzliche Jahre verschafft hatte, war verbraucht, „usé“, „ausgeleiert wie ein Gummiband“, hätte meine Tante gesagt, die dank eiserner Disziplin ein hohes Alter erreichte. Eiserne Disziplin, eine Familieneigenschaft, die mich übersprungen hat. 

Ich mochte ihn gut, diesen Schwiegersohn, etwas hochstaplerisch, mit einem Hauch Lügenbaron, sehr sprachbegabt, hilfsbereit, gesellschaftlich versiert, meistens gut gelaunt, ein begnadeter Verkäufer, mit fast siebzig erlitt er eine Herztransplantation  – wohl aus Prestigegründen des Spitals -, die sein Leben verlängerte, allerdings zu einem hohen Preis. Nach der Transplantation schwebte er monatelang zwischen Leben und Tod, überlebte mit unzähligen Medikamenten und immer wieder Spitalaufenthalten, erkrankte an Long Covid, der Sensemann (oder die Sensefrau) erwischte ihn bei einem Hundespaziergang im Wald: zwei Hunde brachten ihn zu Fall, indem sie ihn mit schleifenden Leinen umringten. Ein Schenkelhals ging entzwei, ebenso einige Rippen, sein zweites Herz kapitulierte. Trotz seiner Schmerzen, klagte er nie, gab sich immer fröhlich und freundlich, einmal jedoch bemerkte er, seine Herztransplantation sei ein Fehler gewesen, wenn er gewusst hätte, was ihn danach erwartete, wäre er besser vorher gestorben. Ich werde nie vergessen, dass er sich sofort anerbot,  mich in den Notfall eines Spitals zu fahren, als ich bei einer grossen Geburtstagsfeier meiner liebsten Freundin mir bei einem idiotischen Sprung das rechte Schienbein derart aufgerissen hatte, dass ich fast verblutete. Im Auto rissen wir Witze über mein mit Küchentüchern – die Feier fand in einer Waldhütte statt – dick verbundenes Bein, das zudem in einem Putzkessel wegen der allfälligen Blutflecken steckte. Nachdem mein Schienbein genäht worden war fuhren wir zurück an die Feier, assen das Dessert und ich hielt eine alle berührende Rede zum Geburtstag meiner liebsten Freundin. 

Zudem starb die hoch betagte Hündin meiner Nachbarin. Nach einer wilden, besser: aggressiven Jugend – sie hatte auch meine Hündin einmal blutig gebissen – war sie altersmilde und liebesbedürftig geworden. Sie bellte oft, und ich werde ihr Bellen vermissen, ich werde sie sehr vermissen. Wird mir ein  multiples Vermissen in meinen zukünftigen Tagen im Genick sitzen? Werden meine Gedanken dauernd Assoziationen zu den vermissten Menschen knüpfen und sie damit völlig auffüllen? Und es werden immer mehr – Menschen. Ist es dieses Vermissen, das die Alten vornehmlich von der Vergangenheit erzählen lässt? Unvermeidlich. 

Der Berner Totentanz befand sich an der südlichen Umfassungsmauer des Dominikanerklosters, bei der heutigen Französischen Kirche. Ob er im Innern oder auf der Strassenseite der Klostermauer gemalt war, ist nicht zweifelsfrei geklärt; jedenfalls gab es über der Mauer ein hölzernes Pultdach als Wetterschutz. Das Wandgemälde in einer Länge von etwa 100 m ist in der Zeit zwischen 1516 und 1519 entstanden. 1660 wurde die südliche Klostermauer zur Erweiterung der heutigen Zeughausgasse abgerissen unter vollständiger Zerstörung des Wandgemäldes. Noch vor der Zerstörung hatte der aus Strassburg stammende und seit 1640 in Bern ansässige Maler Albrecht Kauw (1621-1681) Gouache-Kopien sowohl von dem Totentanzzyklus als auch vom kalligraphischen Schriftbild der Begleitverse angefertigt (1649).

 

 

One thought on “Totentänze

  1. Es schmerzt immer unendlich, wenn wir jemanden, der uns ans Herz gewachsen ist, so endgültig verlieren. Dabei spielt es absolut keine Rolle ob es sich um einen Menschen oder ein Tier handelt. Beides sind Wesen, welche Zuneigung und Liebe empfinden und zurückgeben können. Es tut mir sehr leid, dass S. nicht mehr ist. Das letzte mal begegnete ich ihn im Wald, mit der neuen kleineren Hündin. Es entsetzt mich, lesen zu müssen, dass das Verschlingen von Langleinen schuld an seinem Sturz und dem darauffolgenden Versagen seines Herzens waren! Es ist eine regelrechte Manie geworden, den jüngeren Hunden eine Langleine umzuhängen, da in den Hundekursen oft nur angeleint „gearbeitet“ wird und der Abruf dabei absolut zu kurz kommt. Dabei ist es meiner Meinung nach das absolut Wichtigste, dass der Hund zum Besitzer zuverlässig zurückkehrt. Mit etwas Übung und Geduld ist das machbar. Das älter werden bringt es leider mit sich, dass man immer mehr Abschiede verkraften muss.

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