29. Mai 2020 Doris Schöni 0Comment

Dies sprach der 33-jährige russisch-deutsche Pianist Igor Levit, bevor er sich an den Flügel setzte. Als er aus den Goldberg-Variationen die Aria spielte, überwaltigte mich ein selten auftauchendes Glücksgefühl. Und eine Erkenntnis aus der tiefsten Tiefe meiner selbst.

Levits Aussage ist doppelschneidig. Er richtet sie an sich, an seine Kunst. Sie spornt ihn an, am Tag danach noch besser zu spielen. Das Verb „sich zufriedengeben“ ist in diesem Sinn wohl ein Ausdruck für Mittelmässigkeit und Selbstzufriedenheit. Die andere Seite dient den Ehrgeizigen, sich rücksichtslos nach vorne zu drängen. Der Satz bedeutet auch Expansion, wie zum Beispiel das Abholzen von Urwald, um etwas „Sinnvolles“ auf der freien Fläche zu errichten, Umsatzsteigerung und Gewinnoptimierung, Gewinnmaximierung,etc.

Es gibt eigentlich noch eine dritte Seite des Diktums. Sie betrifft die ältere und alte Bevölkerung. Kennen Sie die stundenlangen Monologe alter Menschen, die von ihren früheren Erfolgen berichten? Nie sagt jemand: „Mein Leben war ein totaler Misserfolg“. Im Volksmund heisst es, Menschen würden sich hauptsächlich an glückliche, lichte Augenblick erinnern. Die unglücklichen, dunklen Momente verdrängt man. Warum? Schämt man sich ihrer? Levits Ausspruch sollte die älteren und alten Menschen dazu motivieren, nicht so oft nach hinten zu blicken. Der Blick über die Vergangenheit hinaus stimuliert das Gehirn.

Es wird den älteren Menschen nicht leicht gemacht, sich gegen die nachfolgenden Generationen zu behaupten. Diese schieben ihnen die Verantwortung zu, die Umwelt beschädigt, die Globalität  gefördert zu haben, sie neiden ihnen die AHV und stöhnen über deren Finanzierung, als ob die heutigen Alten nicht auch ein Berufsleben lang für die damaligen Alten bezahlt hätten. Im Unterschied zu meist asiatischen Gebieten, in denen die Alten für ihre Erfahrungen und ihr Wissen verehrt werden, stossen die Pensionäre in vielen Ländern Europas auf Ablehnung und Verachtung. So ist es ein Ding der Unmöglichkeit, mit über 70 Jahren einen Job zu ergattern. Der ältere Mensch wird gestoppt, bevor er sich um eine Tätigkeit bewirbt: Zu oft wurde ihm zugeschrien: „Was, du nimmst einem jungen Menschen den Job weg?“

Zugegeben: Unter der immer mehr werdenden älteren Bevölkerung gibt es Menschen, die verweigern die Fortschritte in der elektronischen Welt, lehnen es ab, das Internet oder „what’s up“ zu benützen und zahlen lieber bar als mit der Karte. Die Macht der Gewohnheit beherrscht sie, der Satz „so habe ich es immer gemacht“ lässt keine Änderungen zu. Sie beharren auf dem Erworbenen. Was die Sprache betrifft, so passen sich  – vor allem weibliche Alte – den jüngeren Menschen an. Ausdrücke wie „cool“, „huere“, „krass“, „geil“,“tschüssli“ usw. werden damit perpetuiert.

Warum der älteren Bevölkerung vornehmlich handwerkliche und nicht intellektuelle Beschäftigung empfohlen wird, zum Beispiel in der Gemeinde Muri und Gümligen, in der die Fachstelle für Altersfragen eine Strickaktion organisierte, ist unverständlich. Es kann doch nicht sein, dass in Alterseinrichtungen die Mehrheit der Pensionäre lieber strickt als philosophiert oder über die Gründe der Klimaveränderung debattiert.

Igor Livits Aussage, sich nie mit dem Gestern zufriedenzugeben, sollte auch ältere und alte Menschen dazu bewegen, sich nicht mit dem Erreichten zufrieden zu geben.

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