Fortan begleitet er mich in meinem Büro. Er sieht mir zu mit alten wissenden Augen. Der etwa acht bis zehn Jahre alte Knabe sitzt auf einem Biedermeierstuhl, er trägt einen dunkelroten Rollkragen-Pullover, eine dunkelblaue kurze Hose, beige halblange Strümpfe und braune, hohe Schuhe. Das nackte rechte Bein hat er nonchalant über das linke gelegt, umfasst von seinen Händen. Seine Haare, eine Art Pagenfrisur, sind dunkelblond, seine braunen Augen blicken – wie gesagt – wissend, sein Mund ist leicht geöffnet.
Wer bist du, frage ich. Er schweigt. Qui es-tu? versuche ich auf Französisch. Keiner kennt meinen Namen, das sagt er laut und verständlich. Er ging verloren, fügt er bei. Verloren, echoe ich. Woher kommst du? Aus Spiez, dem Schloss Spiez am Thunersee. Du hast im Schloss Spiez gewohnt? Na ja, zögert er, jedenfalls im Haus daneben, dem Haus Le Roselier. Und deine Eltern? Wiederum zögert der Knabe. Wenn ich mich richtig erinnere, bestand ein grosser Altersunterschied zwischen ihnen. Mein Vater, ein Arzt, war zig Jahre älter als meine Mutter, Helene Schiess-Frey. Sie war übrigens die Schwester der Malerin Marguerite Frey-Surbek (1886-1981).
Das Gespräch stockt. Der namenlose Knabe versinkt in seinen Erinnerungen. Wie du wohl heute aussehen würdest, wundere ich mich. Denkst du dabei an Dorian Gray, lautet seine Gegenfrage. Auf meine Nicken fährt er fort: Meine Eltern fuhren nach Amerika, und zwar nach Miami. Wir besuchten die Everglades, dann beginnt er, zu singen: „
„Oh, they say people come
Say people go
This particular diamond was extra special
And though you might be gone
And the world may not know
Still I see you, celestial …
Like a lion you ran
A goddess you rolled
Like an eagle you circle
In perfect purple
So how come things move on?
How come cars don’t slow?
When it feels like the end of my world
When I should, but I can’t, let you go?“ Seine Stimmem erlischt mit „But when I’m cold, cold
In water rolled, salt“ … .
Was ist auf den Everglades geschehen? Die Everglades, die Everglades, summt der Junge, die Everglades erstrecken sich etwa 70 Kilometer südwestlich von Miami und umfassen eine Fläche von 6.104 Quadratkilometern und sind der einzige Ort der Erde, an dem man sowohl auf Krokodile als auch auf Alligatoren treffen kann. Und, seid Ihr auf welche getroffen? Der Knabe wendet sich ab und summt weiter: Bei den Everglades handelt es sich nicht um ein herkömmliches Sumpfgebiet, sondern um einen langsam fliessenden Grassee bzw. einen Fluss, der sehr langsam fliesst und in einer endlos wirkenden Graslandschaft liegt. Gras soweit das Auge reicht. In den Everglades sind mittlerweile auch Nilkrokodile zu finden. Die Tiere werden wesentlich grösser als Alligatoren (bis zu 6 Meter) und stellen für Menschen eine deutlich grössere Gefahr dar, als die in den Everglades heimischen Arten. Ja und? Während einer Bootsfahrt durch die Everglades berührte mein Gesicht beinahe die Wasseroberfläche, da ich Krokodile und Alligatoren etwa zehn Zentimeter unter dem Wasser entdeckt hatte. Plötzlich öffnete ein Krokodil seine Augen, schoss auf und packte meinen Kopf, meine Schreie gurgelten kurz, dann verschwand ich im Schlund des Krokodils. Voller Verzweiflung reisten meine Eltern in die Schweiz zurück. Ihr Schmerz war überwältigend, also sprachen sie mit keinem Menschen über mich und meinen Tod. So ging mein Name verloren und nur ein einziger Mensch erinnerte sich meiner, nämlich der Basler Maler Karl Dick. Er porträtierte mich nach den Bildern in seinem Kopf, das Porträt verschwand jedoch auf einem Estrich.
Nun wurde es wieder ausgepackt …, der Knabe unterbricht mich: ausgepackt und nicht identifiziert. Mein Name wurde vergessen … .
Ja.