Dieses deutsche Sprichwort, Herkunft unbekannt, zitierte meine alte Tante oft. Sie wandte es mit einem spöttischen Unterton an. Sie schenkte mir ein gelbes Schild mit dem Spruch:“Kleine Geister halten Ordnung. Das Genie überblickt das Chaos“. Die über 90-Jährige tolerierte meine Unordnung, mein Chaos, meine kaum gleissende Sauberkeit in der Küche.
Meine perfekte Schwester behauptet ohne jegliches psychologisches Wissen, die Unordnung im Haus wiederspiegle die Unordnung im Kopf. Aber ist nicht gerade das Gegenteil: „Die Ordnung im Haus wiederspiegelt die Unordnung im Kopf“ richtig? Und warum auch ist „Ordnung halten“ so wahnsinnig wichtig?
Von den berühmt-berüchtigten preussischen Tugenden leiten sich auch die deutschen Tugenden ab, zu denen folgende Eigenschaften zählen:
- Aufrichtigkeit
- Bescheidenheit
- Ehrlichkeit
- Fleiss
- Geradelinigkeit
- Gerechtigkeitssinn
- Gewissenhaftigkeit
- Ordnungssinn
- Pflichtbewusstsein
- Pünktlichkeit
- Redlichkeit
- Sauberkeit
- Sparsamkeit
- Toleranz
- Unbestechlichkeit
- Zurückhaltung
- Zielstrebigkeit
- Zuverlässigkeit
Abgesehen von Ehrlichkeit, Gerechtigkeitssinn, Toleranz, Unbestechlichkeit und Zuverlässigkeit weisen diese Eigenschaften auf eine streng-bürgerliche, autoritäre Erziehung des 19. und 20. Jahrhunderts.
Ein Alltagsgeschichtlein des bürgerlichen Ordnungssinns: Im Wartezimmer eines Arztes, ich lese den „Spiegel“, während fünf Minuten verlasse ich für eine Blutprobe das Wartezimmer. Als ich zurückkehre sind zwei neue Patientinnen angekommen. Und meine Zeitschrift ist verschwunden. Ich frage: „Wo ist meine aufgeschlagene Zeitschrift?“ Eine der mittelalterlichen Frauen antwortet: „Die habe ich natürlich versorgt“. Fassungslos stammle ich: „Ja, ja, Ordnung muss sein“. Sie sieht mich an voller Abscheu, als käme ich direkt aus dem Schweinestall. Jene, die sich über Ordnung mokieren, sie verpönen, haben ihr gesellschaftliches Leben verwirkt. Wirklich?