Nun sitzt die alte Frau wie an jedem Tag im Rollstuhl, der ganz eng an einem Tisch geschoben worden und blockiert ist, so dass sie nur den Oberkörper bewegen kann.Sie spricht nicht mehr, auch nicht mit ihrer Nichte. Stumm und apathisch trinkt sie aus einem Glas, das leer ist und löffelt aus einer Schale, die nichts enthält. Man hat sie wohl wieder mit Medikamenten ruhig gestellt, damit sie nicht rebelliert, sich gegen körperliche Übergriffe nicht wehrt wie ein gefangenes Tier, den geregelten Tagesablauf nicht stört, so dass die Tagesschichtbesatzung wohlgemut ihre Arbeit ordentlich beenden kann. Endlich Ausgang. Der Gedanke an die alte Frau wird abgelegt wie die Institutionskleidung.
Eine der Pflegenden fragte die Nichte, ob sie einverstanden sei, ihre Tante am Rollstuhl anzubinden. Ihre Antwort war nein. Ob die Tante wohl innerlich mit sich spricht? Kann sie überhaupt noch eine Sprache finden in ihrem medikamentösen Chaos im Gehirn? Warum gibt man solchen Menschen nicht den goldenen Schuss oder eine Giftpille, so lange sie ihren Körperzustand noch einschätzen können? Chemie nützt gegen Schmerzen, aber nützt sie auch gegen Rebellion?
Es gibt heute eine grosse Menge von Unterstützung und Hilfe für behinderte Menschen, für Opfer von Verkehrsunfällen, für Kinder mit Lernproblemen und für psychisch versehrte Personen. In Alterseinrichtungen jedoch herrscht Ruhe und Ordnung, die Pflegenden sind nett zu den Netten, freundlich mit angepassten Alten und hilfsbereit dankbaren Pensionären gegenüber.
Wohin aber mit den Rebellen, deren es immer mehr geben wird mit dem Altwerden der 68er? Sie werden sich nicht an die Hausordnung halten, gegen einen geregelten Betrieb randalieren und trotz strengem Rauchverbot ihre Cannabis-Zigaretten und -Pfeifen paffen. Wie werden die Pflegenden mit der Störung ihrer nach Lehrbuch verrichteten Tätigkeiten umgehen? Ist ein festgelegter Tagesablauf wichtiger als eine kitzekleine Abweichung von der alltäglichen Routine? Warum muss jede Handreichung in Alterseinrichtungen dokumentiert und gerechtfertigt werden?
Es sollte ein Seniorenhaus für Renitente, Rebellierende, Aggressive, Aufsässige, Unbotmässige, Nicht-Resignierte, Kämpferische, Aufmüpfige, Gehorsam Verweigernde und Dickköpfige konzipiert und realisiert werden. Eine Nische, mit der sich – genau wie bei den heutigen Alterseinrichtungen – Geld verdienen liesse. Nur hat sie noch keiner entdeckt … .
Liebe Doris
Habe all Deine neuen Blogs gelesen und genossen, ein kleiner Lichtblick im Chaos dieser Welt…