In nächster Umgebung leiden einige Menschen an der Liebe. In den meisten Fällen handelt es sich um Männer zwischen 60 und 70. Einer träumt von der Leidenschaft zwischen ihm und seiner Freundin wie sie vor 30 Jahren war. Ein anderer wirbt seit vielen Jahren um die Liebe einer Frau, die sie nicht geben kann, weil sie keine zu geben hat.
Dass eine Leidenschaft von begrenzter Dauer ist, sollte einem 70-Jährigen bekannt sein. Warum kann er nicht akzeptieren, dass sich die leidenschaftliche Liebe im Laufe der Jahre wandelt, zu einer Freundschaft wird und auf einer viel stabileren Basis steht als zuvor? Nicht nur der Geist, auch der Körper verändert sich. Der Geist hat sich geweitet und erträgt es schlecht, wenn jener des anderen enger wird. Es gibt Menschen, deren Geist oder Wahrnehmung ein lebenlang dieselben sind. Überzeugt davon, dass die in jüngeren Jahren gefassten Ansichten die richtigen sind, weisen sie kein Jota von ihrem „rechten“ Weg ab. Deshalb verstehen sie nicht, dass die Freundin eigentlich eine andere geworden ist. Was bedingt, dass es keine Renaissance der Leidenschaft geben kann. Warum ertragen so viele ältere Männer nicht, dass aus einer Leidenschaft viele Jahre später eine Freundschaft wird?
Ein anderer, mittelalterliche Mann wirbt seit bald zehn Jahren um die Liebe seiner Freundin. Seine unendlich vorhandenen Hoffungen erfüllten sich nicht und trotzdem hegt er weiterhin Hoffnungen. Die Hoffnung, geliebt zu werden gleicht jener eines Spitzensportlers, der sie unbedingt erfüllen will. Je steiler der Weg, desto grösser sind die Hoffnungen, dieses Ziel zu erreichen. Sie widersprechen der Realität, werden aber möglicherweise vom Lebensnerv gesteuert. Die Knickung des Lebensnervs könnte einen geistigen und körperlichen Abbau bewirken. Eine unerwiderte Liebe ist äusserst schmerzhaft – voller Scham, gemindertem Selbstbewusstsein, Zweifel, geliebt werden zu können, in ständiger Angst, etwas falsch zu machen und unentwegt auf dem „qui-vive“, der Geliebten einen Dienst zu erweisen. Dies könnte sehr kreativ sein, würden nicht die eigenen Bedürfnisse beschnitten.
Es stellt sich nun die Frage, ob die Liebe nicht überbewertet wird. Was ist denn Liebe überhaupt und gibt es sie oder wollen die Menschen, dass es sie gibt? Die Liebe, liest man, sei ein unbewusster Ausdruck des Unvermögens, sich einzugestehen, in einem bestimmten Augenblick nicht autonom zu sein. Das Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden, wäre also nichts anderes als ein egoistisches Bedürfnis, die Erwartung an eine Person, welche die die materiellen und immatriellen Mängel, die man selbst nicht erfüllen kann, beheben könnte.
Müsste die Liebe nicht neu definiert werden?