Im letzten Samstagsinterview des BUND befragt Sebastian Briellmann den Basler Historiker Erik Petry, der sagt, der Antisemitismus sei auf dem Vormarsch, auch in der Schweiz. Er fordert eine neue Aufklärungskampagne an den Schulen.
Möglicherweise ist es heute anders: meine Kenntnisse über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust musste ich mir selbst aneignen, denn die Geschichtslehrer zu jener Zeit (1950-1960) schwiegen sich darüber aus. Umso mehr wurden die Heldentaten der Eidgenossen gerühmt … .
Die Wurzeln des Antisemitismus lassen sich in der Konkurrenz zwischen frühem Christentum und Judentum finden. Der verhängnisvollste Vorwurf ist der, ‚die Juden‘ seien verantwortlich für die Kreuzigung Christi und ‚Gottesmörder‘. Mit der Christianisierung Europas verbreiten sich judenfeindliche Vorurteile und Stereotype. Im Laufe des Mittelalters werden sie weiter angereichert und ergänzt, bis es ab dem 13. Jahrhundert zu Verfolgungen und Austreibungen kommt. Antijüdische Feindschaft bezieht sich nun nicht mehr auf die Religion, sondern auf die Herkunft. (anders denken, Judenfeindschaft in der Antike und im Mittelalter). Vorurteile und Stereotype haben Jahrhunderte überdauert, dieselben Klischees tradierten sich von Generation zu Generation. Oft fällt in völlig kommunen Konversationen ein judenfeindliches, nonchalent hingeworfenes Klischee, meist im Zusammenhang mit der angeblichen Raffgier der Juden. Und keiner protestiert dagegen. Es ist selbstverständlich geworden. Niemand denkt darüber nach.
Und ist es nicht ein sonderbares Phänomen, dass das schrägste Outfit in der Öffentlichkeit toleriert wird, nicht aber die Kippa? Sonderbar ist auch, dass Verständnis für alle Arten von Geschlechtern gefordert wird, auf dem Pausenplatz Verbalinjurien wie „schwule Sau“ und „Saujude“ üblich geworden sind. Ob sich die Lehrer dazu äussern? Während des Sechstagekriegs war die Schweiz voll des Lobes für den Staat Israel, sie identifizierte sich mit Israel, doch dieses Lob bröckelte und bröckelte, bis man wieder auf die Stufe des Zweiten Weltkriegs zurückkehrte, in der die Schweiz nicht gerade judenfreundlich war. Dieselben Stereotypen wie im Mittelalter … . Dies zeichnet die Eidgenossenschaft nicht besonders aus.
Gerade so schlimm wie der Antisemitismus ist die Gleichgültigkeit dem Antrisemitismus gegenüber. Wie oft wird erklärt, man habe das Gejammer angesichts der Judenfeindlichkeit satt, „all diese alten Geschichten sind doch Schnee von gestern“. Ist es „Schnee von gestern“, wenn die Juden von gewissen Kreisen in der Schweiz als Urheber der Corona-Epidemie bezeichnet werden? Solch eine Ignoranz ist unerträglich. In seinem Schlusssatz sagt Erik Petry (wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für jüdische Studien an der Universität Basel): „Wir müssen mittels Bildung und Aufklärung eine Normalität herstellen“. Zweifel ist angebracht, da auch der Begriff „Bildung“ ein Schimpofwort geworden ist …