3. März 2022 Doris Schöni 0Comment

Wer das «Gesicht verliert», fühlt sich erniedrigt oder ausgegrenzt. Der Ausdruck kommt wahrscheinlich daher, dass man schamrot im Gesicht wird, wenn man das Gefühl hat, eine «Schmach» erlitten zu haben. In China geht es um mehr als ein gesellschaftliches Konzept: Bloss nicht das Gegenüber das Gesicht verlieren lassen.

Wenn unsere Unwissenheit, Schwächen oder Makel plötzlich blossgelegt werden, schrieb Aurélie Faesch-Despont 2019, kann dies negative Emotionen hervorrufen. Wer das «Gesicht verliert», fühlt sich erniedrigt oder ausgegrenzt. Forschende im Bereich Psychologie und Neurowissenschaften sind sich einig: Fehler zu begehen kann zunächst als unangenehm empfunden werden, ist aber auch das Beste, was uns passieren kann. Seit rund zwanzig Jahren zeigt die neurowissenschaftliche Forschung, dass unser Hirn stets bereit ist, aus Fehlern zu lernen. Das mit „sehen“ verwandte „Gesicht“ hatte früher noch mehr Bedeutungen als heute, nämlich neben „Gesicht“ auch „das Sehen, Auge, Erscheinung, Sehvermögen, Blick, das Gesehene“. So konnte man noch Anfang des 20. Jahrhunderts „sein Gesicht verlieren“, was bedeutete „nicht mehr sehen können, blind werden“. Man konnte auch „etwas aus dem Gesicht verlieren“ (aus den Augen verlieren, also nicht mehr sehen). Die Angst, das Gesicht zu verlieren, sei ein Argument aller schwachen Leute (Redensarten Index).

Im Augenblick hört und liest man immer wieder, eine Lösung, den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu beenden, sei nur möglich, wenn Wladimir Putin sein Gesicht nicht verliere. Aber: sein Gesicht hat er verloren, indem er diesen Krieg anzettelte. Die ganze Welt verurteilt ihn, ob seine Landsleute gegen ihn aufbegehren, wäre möglich. Manche Menschen fragen sich, ob Putin nicht den Kopf verloren hat. Kopf oder Gesicht, was solls? Jedenfalls hat er nicht viel Kopf bewiesen: er hat einfach einen despotischen Vorgänger – Adolf Hitler – abgekupfert. Unter dem Vorwand, diskriminierte Landsleute in anderen Ländern zu retten, erweiterte er seinen „Lebensraum“. Unter demselben Vorwand bricht Russland in die Ukraine ein und gleichzeitig erobert es einen Teil der verlorenen Sowjetunion. Mit der Auflösung der Sowjetunion 1991, „verlor“ Wladimir Putin wichtige Staaten seines Sowjetimperiums.

In allen sozialen Klassen ist es unangenehm, das Gesicht zu verlieren. Wer ist denn glücklich darüber, blamiert zu werden? Und doch, so scheint es, müsste der Präsident des flächenmässig grössten Landes der Erde das Selbstbewusstsein, die Souveränität und vor allem die Grösse haben, sein Gesicht zu verlieren, indem er seine Fehler eingesteht.

Illusion … .

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