Mir träumte, oder ich schien zu träumen: Horror Tod hatte mich ereilt. Und zwar in der Gestalt des Sensemanns aus Niklaus Manuels Totentanz in der landsknechtischen Kleidung des ausgehenden 15. Jahrhunderts. Vom Leben in den Traum in den Tod und in eine riesige, helle Halle umgeben von einem Infinity Pool mit dem Anschein, das Wasser würde im Nichts oder in der Unendlichkeit verschwinden.
Ich war noch immer ich oder ich, die ich dachte, zu sein. Die riesige Halle wurde getragen von korinthische Säulen, deren Kapitelle mit Akanthus umgeben waren. In kleinen Grüppchen unterhielten sich Menschen. Die Stimmung in der Halle war friedlich und beruhigend, mir sass das Lachen zuvorderst, erinnerte mich diese Szene an die frommen Bildchen vom „Himmel“, die man als Kind im Religionsunterricht bekommen hatte. Ich schritt – ja, ich schritt wirklich – durch die endlose Halle und wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Plötzlich erkannte ich meine Grossmutter mütterlicherseits. „Apa“, rief ich – so nannten wir diese Grossmutter mit bewusster Umgehung der biederen, vorgegebenen Namen – „Apa,“ und dümmlich: „Bist du auch da?“ Apa sah aus wie immer. Klein, etwas gedrungen, mit einem kunstvollen Chignon, elegantem Kleid, Knöpfelschuhen und dem entsprechenden Schmuck. Sie wusste nicht, wer ich war. Verständlich, in ihrer Erinnerung war ich zehn. „Weisst du noch“, flehte ich, „ich hatte doch immer verpflasterte Knie und liebte deine Kartoffelpuffer so sehr.“ Ein Lächeln knitterte Apas Gesicht. Und ich schritt weiter.
Plötzlich wurde mir bange. Würde ich nun mein ganzes, verkorkstes Erdenleben vorgesetzt bekommen? Dazu fehlte mir eindeutig die Lust. „Geben Sie mir doch eine Beschäftigung,“ bat ich jedes Grüppchen, an dem ich vorbeischritt. Die Grüppchengesichter sahen mich verständnislos an und schwiegen. Ich ging, wie mir schien, ein Leben lang, bis ans Ufer des Infinity Pools. Beim schärferen Blicken bemerkte ich viele schwimmende totlebendige Menschen. Das Leben baut auf Bilder. Die Bäder in der Matte in Bern, zweideutige, sündige Bäder, die Giacomo Casanova im 18. Jahrhundert besuchte, blendeten sich ein. Auch wieder eine bildliche Assoziation: Die Gesichter im Pool glichen jenen leeren von Otto Meyer-Amden.
Das warme, samtige Wasser des Pools umspülten Beine und Füsse. Als hätten Beine und Füsse ein Bewusstsein, erkannte ich drei oder vier lachende Gesichter von ehemaligen Freundinnen, eher Fechtmitstreiterinnen, was hatten wir doch damals gelitten an treulosen Liebhabern, bei jedem Treffen in hippen Restaurants trug die eine oder andere eine Sonnenbrille, um die tränenroten Augen zu cachieren. An den Wochenenden zogen wir wie Amazonen in die Schlachten der französischen Provinz und kehrten mit Trostpreisen – im doppelten Sinn – in den Alltag zurück. Wir beglückten den einen Trostpreis in Neuchâtel, zwei-, dreimal. Dann: Sonnenbrille auf. Wir wähnten uns als Nabel der Welt mit unserem wilden, ungebundenen Lebensstil und liessen uns in berühmten Restaurants von ältlichen Beaux zu Drinks, wie sie damals hiessen, einladen. Ihr bewunderndes „Was, Fechterin sind Sie“, zu jener Zeit duzten sich Hinz und Kunz noch nicht, liessen uns beben vor Stolz, etwas Besonderes zu sein.
Die drei oder vier lachenden Gesichter lösten sich auf. Meine Angst, wieder und wieder bekannte Menschen zu erblicken, verwandelte sich in Panik. Ich wollte nicht erinnert werden. Ich wollte nicht alles wieder erleben. Mir graute davor. Mir graute auch vor glücklich erlebten Momenten. Wie ein Pfeil die Erinnerung an meinen glücklichsten Augenblick vor vielen, vielen Jahren: Ich befand mich in einem gläsernen Aufzug eines Hotels in Lissabon und ein sentimentaler portugiesischer Schlager nahm mich gefangen. Und schrecklich zu sagen: Ich verachte „kleines“ Glück.
Einen an eine korinthische Säule lehnender Mann fragte ich, was er zu lesen im Begriff sei. Er lächelte: „Ich lese leere Seiten und paginiere sie“. Ich liess nicht locker: „Ich kann sie mit Buchstaben füllen“. Er verneinte und murmelte: „Der Zweck ist doch, leere Seiten lesen zu lernen“ und wandte sich ab. Zwei jugendliche Totlebendige hatten auf der Basis einer Säule Platz genommen und stritten sich erbittert. Sie sprachen die eben neu erfundene Sprache, ein Gemisch aus Englisch, Chinesisch (Mandarin), Deutsch und Arabisch, die nach dem Wunsch der Jugend und einiger Illetristen völlig ohne jegliche Regel gesprochen und geschrieben werden konnte. Ich hatte diese Sprache nicht mehr lernen können und verstand deshalb nur ab und zu ein Wort. Es schien, um Fussball zu gehen. „Fussball im Paradies“, dachte ich, „da wird der BLICK in dieser Halle ebenfalls angekommen sein“. Ich blickte angestrengt in alle Richtungen und erspähte auf den kleinen Wellen des Infinity Pools einen BLICK im Einklang mit einem Fussball tanzen. „Der Niedergang des Paradieses hat begonnen“, flüsterte ich und begann zu weinen.
Mir schien, ich hätte Äonen am Ufer des Infinity Pools zugebracht. Dann steuerten zwei Frauen auf mich zu. Ich erkannte sie und erschrak. Die eine hatte ein höhnisches Lachen im Gesicht, die andere blickte traurig. „Sie müssen gehen“, erklärten sie unisono. „Sie wurden ausgeschlossen wegen Ihres Benehmens“. Ich schlug die Hände vors Gesicht und verstopfte meine Ohren. Dumpf vernahm ich: „Kehren Sie auf die Erde zurück. Aber subito“.