In meiner Generation kümmerten sich unverheiratete Fräuleins um ihre Eltern. Sie waren im elterlichen Haus in ungeheizten Mansarden untergebracht. Sie sahen aus wie Vogelscheuchen, trugen Bürzis, waren knochig, von Kopf zu Fuss in Wolle gehüllt; der einzige Schmuck, der ihnen vergönnt war, bestand aus einem Wappenring und einer Kupferschnalle im Haar. Starben die Eltern, erbte der älteste Sohn Vermögen und Haus. Die Tochter diente dann der Familie des Bruders und half in Küche und Garten und kümmerte sich um den Nachwuchs.
In meiner Generation sprach der Vater, wenn man am Gymnasium in Mathematik nicht genügte (trotz guter Noten in Deutsch, Französisch und Latein, die weniger zählten) und sich auch sonstwie nicht in den gymnasialen Betrieb einfügte: „So gehst du eben in die Sekundarschule.“ Beim Vorschlag, es doch in einer Privatschule zu versuchen, erklärte er ungerührt: „Du heiratest ja sowieso“. Wenn man dann nicht heiratete, Hausfrau und Mutter wurde, für diese Dienstleistungen vom Ehemann bezahlt wurde, wählte man eben einen Beruf in der Nähe von akademischen Tätigkeiten, die man zwar verrichtete, aber sich dafür mit einem Hungerlöhnchen zufrieden geben musste. Um eine Lohnerhöhung zu bitten, war für Frauen nicht statthaft.
In meiner Generation wohnten die unverheirateten Töchter bei ihren Eltern. Langsam gab es die Möglichkeit, ein Studio zu mieten. Meistens aber fehlte das Geld, das für ein Studio und das tägliche Leben nötig war. Blieb man eine Nacht weg, zeterte die Mutter („wehe, du wirst schwanger“) und der Vater drohte. Die einzige Frage, welche die Eltern stellten, war: „Was arbeitet er und was arbeitet sein Vater“. Kannte man die Antwort nicht, wurden die wahnwitzigsten Vermutungen geäussert. Das erste Schreckensgespenst war der Arbeiter. Dann der Künstler. Oder ein Gastwirt. Die Eltern tricherten einem ein, am besten sei ein Beamter mit Pension. Nach einem zweiten, dritten oder gar vierten Fernbleiben über Nacht unkte die Mutter „Du wirst auf der Strasse landen“.
In meiner Generation war es in bürgerlichen Kreisen üblich, dass die Tochter am Samstagnachmittag die – inzwischen von ihrem Ehemann getrennte – Mutter zum Tee in ein renommiertes Lokal begleitete. Das war immer eine langweilige Angelegenheit. Einmal ergab es sich, dass ein (nordafrikanischer) Kellner die Tochter freundlich begrüsste und sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigte. Sobald er mit der Bestellung den Tisch verliess, juckte die Mutter auf und fragte zischend : „Was, du kennst einen Kellner“. Nach der Bejahung wandte sich die Mutter pikiert ab und sass wie versteinert und wortlos am Restauranttisch – ein implodierendes Denkmal angekratzter Konventionen.
In meiner Generation wurden junge Frauen exzessiv von ihren Arbeitgebern, Ausbildnern und Mitarbeitern sexuell belästigt. Solches Treiben ereignete sich nicht etwa auf Baustellen, sondern in kulturellen Instituten wie zum Beispiel Bibliotheken. Die meist verheirateten Männer kannten keine Zurückhaltung und schreckten selbst vor Vergewaltigungen nicht zurück. Die Frauen schämten sich für diese Männer, aber wagten es vor Angst, die Arbeit zu verlieren oder ein Examen nicht zu bestehen, nicht, sich gegen sie zu wehren. Ein einziger Mann wurde angezeigt und vor Gericht gestellt. Der Vater sprach: „Du wirst nicht gegen diesen Mann aussagen“. „Und warum nicht?“ „Er ist ein Familienvater“. Ach so. Die mittelalterlichen Männer dieser Generation waren sexbesessen und derart von sich eingenommen, dass sie kein Hundertstel daran zweifelten, den Frauen zu gefallen. Sie waren Männer und im Recht. Schliesslich leisteten sie Militärdienst, unterhielten ihre Familien und nahmen ihr Stimm- und Wahlrecht – im Unterschied zu den Frauen, denen sie es verweigerten – wahr. In meiner Generation dominierten die Männer; es stand ihnen nicht nur am Stamm zu, die Kellnerinnen ungeahndet in den Hintern zu klemmen.
In meiner Generation wurde in der Schweiz unglaublich langweilig gekocht. Der obligatorische Haushaltunterricht – den Mädchen aus Mittelschulen während der Ferien absolvieren mussten – mahnte eher zum Sparen denn zum Würzen. Salz, Pfeffer und Maggiwürze kamen ins Essen und Schluss. Putzen, Waschen und Bügeln waren wichtiger als Kochen. Man ass saisongerecht, was heute wieder Mode, aber sehr eintönig ist. Am Freitag wurde Fisch aufgetischt, und zwar meistens Cabeljau. Den Salat ass man zum Hauptgang oder danach. Das erste „exotische“ Gericht war das Riz Casimir (mit rahmgefüllten Büchsen-Pfirsichen). Dann kam (an Festtagen) das Fondue Chinoise – das mit China nichts zu tun hat – auf den Tisch. Jene, die sich in den fünfziger Jahren Reisen nach Italien leisten konnten, kehrten mit Rezepten von italienischen Teigwaren, Krustentieren und Gewürzen nach Hause. Zum ersten Mal kochte man die Teigwaren, die vorher matschig gewesen waren, al dente. Anstelle der „Schale Gold“ hatten die Italienreisenden Gefallen am Espresso gefunden. Dieser wurde jedoch „verschweizert“, indem man Kaffeerahm hinein goss. Erst mit den Gastarbeitern und später den Flüchtlingen öffneten sich des Schweizers Küchen.
Trotz allen Zwängen und Konventionen gab es in meiner Generation auch Freiheiten, die heute unverständlich sind. Man rauchte ungehindert überall: In Restaurants, in der Eisenbahn, im Flugzeug, im Tram, im Kino, am Arbeitsplatz, in Banken, Museen und Bibliotheken (?), in der Arztpraxis, im Spitalzimmer, in Taxis, im Hallenbad, im Fechtsaal, in gewissen Theatern, und vor dem Marzilibad in Bern bekamen die Gäste unentgeltliche Zigarettenmuster. Auch den Autofahrern waren kaum Einschränkungen auferlegt: Keine Parkverbote, kein Gurtenzwang, zum Ölwechsel fuhr man an einen Fluss oder See und goss das verbrauchte Öl ins Wasser, nach Mitternacht raste man mit hundert Kilometern durch die leere Stadt, kein Alkoholtest verdarb ausschweifende Abendessen und private Feiern, Geschwindigkeitskontrollen waren äusserst selten und wenn man trotzdem in eine Falle geriet, konnte man die Polizisten davon überzeugen, dass die zu schnelle Fahrt berechtigt gewesen war.
Gibt es ein Erkenntnis aus meiner Generation und der heutigen? Ja: Die heutigen Frauen verdanken einen Teil ihrer Unabhängigkeit meiner Generation. Und wissen es nicht.