14. September 2020 Doris Schöni 1Comment

„Man nimmt sich mit, wohin man geht.“ (Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie).

Ursachen einer Identitätskrise sind zum Beispiel Selbstzweifel, allgemeine Unzufriedenheit, das Nicht-Finden eines mögliche Sinnes, Ängste vor der Zukunft, traumatische Erschütterungen und nostalgische Sehnsucht. Auch tiefgreifende Umbrüche im Leben, der Beginn eines neuen Lebensabschnitts, einer veränderten Lebenssituation, Verlusterfahrungen, schwere Krankheiten und berufliche oder private Krisen, können zu einer Identitätskrise führen. Besteht die Möglichkeit, die eigenen Erwartungen und die Erwartungen der Umwelt nicht in Einklang gebracht zu haben und somit seiner Rolle nicht nachgegangen zu sein, kann es ebenfalls zu einer Identitätskrise kommen. Ein weiterer Grund sind allenfalls kulturelle, religiöse, weltanschauliche, politische, soziale, berufliche, sprachliche oder familiäre Differenzen.

Eine Identitätskrise kann zu Erscheinungen von Müdigkeit, Lustlosigkeit, Kreislaufstörungen und Magenschmerzen, Schlafstörungen, Stress, Depressionen und Stimmungsschwankungen führen.

Die Identität eines Menschen ist variabel. Sie verändert sich im Laufe der Jahre durch Erfahrungen, Ereignisse und Umfeld. Der Mensch verfügt nicht über eine Identität, sondern über mehrere. In einem TV-Film kämpft eine Frau nach einer Gehirnentzündung für ein neues Ich. Der Titel des Films lautet: „Vergiss mein Ich“. Damit gemeint ist ihr vorheriges Ich. Die Frau wird total exzentrisch und nimmt wieder die Rolle eines Kindes an, das unreflektiert die – des Kindes – Wahrheit verlauten lässt. Sie lacht, weint, verkleidet sich und stösst ihre hoch intellektuellen Freunde vor den Kopf. Sie hat keinen Zugriff mehr auf das, was die Medizin als „biografisches Gedächtnis“ bezeichnet. Ihr altes Leben wird für sie zu einer Geschichte, die ihr andere schildern müssen. Zunächst versucht sie, ihre „alte“ Rolle in dieser Geschichte auszufüllen und so den Erwartungen ihrer sozialen Umwelt zu entsprechen. Doch sie entwickelt eine eigene individuelle Persönlichkeit, welche sich dagegen wehrt, das zu tun, was ihre Umwelt von ihr erwartet und wozu sie gedrängt wird – nämlich, sie selbst zu werden. Von Zeit zu Zeit stellt die Protagonistin fest, dass ihr „neues“ Ich vollkommen andere Wünsche und Bedürfnisse hat.

Auch ohne Gehirnentzündung stellen Menschen in ihrem dritten Lebensabschnitt mitunter fest, dass ihr Ich nicht mehr ihr wirkliches Ich ist. Sie müssen es der jetzigen Realität anpassen. Dieses Bedürfnis ist derart heftig, dass sie ungeachtet der Verletzungen, die sie anderen Menschen zufügen, das neue Ich leben müssen. Ob damit die Identitätskrise überwunden wird?


One thought on “Identitätskrise

  1. Sehr gut geschriebener Artikel ist das große Thema von Carl Jungs Deep Psychology, dem Prozess der Individuation, wenn wir werden, wer wir sind, sind wir …

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