10. April 2023 Doris Schöni 1Comment

Deine fast täglichen Abschiedsworte vor meinem Gartentor: „Ä schöne Abe und ä gueti Nacht“ wirbeln meine Gedanken durcheinander. Sie bedeuteten wenig für mich, sie waren Alltag, selbstverständlich, und ich war jeweils froh, endlich zu Hause zu sein.

In den letzten Monaten hast Du Dich verändert. Dein Zeitgefühl war Dir verloren gegangen. Plötzlich besuchtest Du mich spät Abends und wusstest nicht genau, wo Du Dich vorher aufgehalten hattest. Meine Fragen beantworteste Du durch Pirouetten und Ausflüchte. Anders als vorher suchtest Du während der kurzen Spaziergängen immer wieder eine Sitzgelegenheit und schliefst auf Bänken und in Restaurants ein.

Hast Du es geahnt?

Es wird immer ein Rätsel bleiben, warum Du Dich am Morgen früh auf einer Schotterstrasse in der Nähe des Schwarzsees aufgehalten hast. Und welches ist der Grund, dass Du zuerst gegen einen Baum pralltest und dann 50 Meter in die Tiefe stürztes. Du musstest ohne das Dir wichtige Frühstück aufgebrochen sein. Was oder wer hat Dich dorthin getrieben? Eine Verwirrung, ein atavistischer Zwang, eine brennende Sehnsucht? Oder war dieses schreckliche Unglück beabsichtigt? Nein, nein. Du standest mit beiden Füssen fest auf der Erde. Existenzielle Ängste waren Dir fremd. Vielleicht hast Du sie verschwiegen, da Du nicht besonders redselig warst. Auf unseren Hundespaziergängen haben wir oft geschwiegen.  Manchmal ein Wort über den Wald, das Flüsschen, die erstarrten Baumskelette.

Die Weihnachtsrosenpflanze, die Du mir schenktest, ist verdorrt, habe ich verdorren lassen in meiner unendlichen Gleichgültigkeit. Habe ich Dich nicht auch verdorren lassen? Zu oft war ich missgelaunt, unwirsch, ungeduldig und trieb Dich zur Eile. Du hast mein negatives Verhalten wortlos ertragen und verziehen. Du hast Dich nicht mit mir auseinander gesetzt oder mich kritisiert, so  wie Du nie irgend einen Menschen  kritisiert hast.

Wärst Du wohl mit dem Auto auch in die Tiefe gestürzt mit mir als Beifahrerin, hätte ich Dich davor bewahren können?  In letzter Zeit hatte ich oft „stopp“ gerufen, wenn Du eine Katze übersehen hast oder zu schnell auf eine Kreuzung rastest. Dein Auto wolltest Du unbedingt behalten, es war voller Erinnerungen, dieses alte Vehikel umgeben von dünnstem Blech und ohne Kühlerhaube. Ein Todesauto, ein Auto des Todes.

Hast Du es geahnt?

Dein Lebensgefährte, mit dem Du beinahe 50 Jahren zusammen wohntest, ist vor einigen Jahren gestorben. Du hast Deinen Schmerz und Deine Trauer unterdrückt, immerhin erzähltest Du Deine Träume, in denen er häufig auftrat. Mit ihm hast Du alle Viertausender in den Kantonen Bern und Wallis bestiegen, hast biwakiert, im Zelt und in Berghütten im Massenlager übernachtet. Du kanntest die Namen der Berge, die ich fortlaufend vergass. Wir waren völlig verschieden. Ausser in der Liebe zu unseren Hunden. Du hast meine Hündin geliebt, so wie ich Deine geliebt habe.

Es schmerzt unendlich: Du hast Deine Hündin mit in den Tod gerissen. Auch sie hat die Höllenfahrt nicht überlebt. Warst Du Dir dessen bewusst, als Du Deine letzten Gedanken fasstest? Hast Du vor Schmerzen geschrien oder bist du lautlos zusammengesunken? Es gab keine Zeugen, Du warst mutterseelenallein auf dieser Schotterstrasse. Für Dich hat dieses Ende gestimmt. Eure vierwöchige Fussreise durch die Schweiz entsprach Deinen Bedürfnissen. In der fotografischen Dokumentation benütztest Du zwei Worte: „Aufstieg. Abstieg“. Immer wieder: „Aufstieg. Abstieg“.

Lebenslang wickelten sich Deine Berufstätigkeit und Wohnsituation im selben Perimeter ab. Du hattest keine hohen Ansprüche an Dein Leben. Du stelltest Dich immer in den Dienst von Menschen. Zuerst Deiner Brüder, die alle drei studierten, später Deiner Mutter zu Hause und im Altersheim, und zuletzt Deines Lebensgefährten und Deiner Hunde. Nie hast Du die Aufmerksamkeit auf Dich gelenkt, Bescheidenheit und Demut waren sehr ausgeprägt. Trotzdem war ich oft wütend auf Dich, denn Du rücktest kein Jota von Deinen Gewohnheiten ab, was mich vielfach in einen extremen Zeitmangel brachte. Du hattest kaum Interesse an meinen Tätigkeiten und an meinem Wissensdurst,

Noch verdränge ich, Dich und Deine Hündin, je wieder in meine Küche eintreten zu sehen. Ich verstopfe meine Ohren und verdecke meinen Augen an Orten, die wir zusammen oft aufsuchten.  Ein Trost: Du musst nicht um Deine Hündin trauern, die Du in absehbarer Zeit verloren hättest.

Hast Du es geahnnt?

Hast Du es geplant?

 

 

 

One thought on “Hast Du es geahnt?

  1. Ich war zutiefst erschrocken und berührt als ich deinen Blog las. Vor Kurzem haben wir noch über sie gesprochen. Du hast dir Gedanken und Sorgen über ihr verändertes Verhalten gemacht. Das Einschlafen, die Verwirrtheit….Auch wenn ihr grundverschieden wart bestand doch ein Band zwischen euch. Sie stand dir bei deinem tiefen Verlust zur Seite und du warst auch bei ihrem Verlust für sie da. Manchmal braucht man da nicht viele Worte. So wie ich sie kannte kann ich mir etwas Geplantes nicht wirklich vorstellen. Ich empfand sie als so geerdet. Aber Nichts ist sicher….

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