Ein entfesseltes Gewitter tobt über Muri. Blitze jagen am dunkelrosa Nachthimmel, Donner kracht einen Augenblick später mit einer angsterregenden Lautstärke; dann setzt Regen ein, Regensturm, Wasserfontänen, die auf Rasen und Weg einpeitschen.
Ich sitze auf der Veranda, lichtlos, lediglich das grellrote Aufleuchten und das Grollen als Begleitung. Der filigrane Vorhang einer verblühten Clematis gibt Schutz vor den fetten Tropfen, die mitunter schräg auf dem Verandaboden explodieren. Es ist noch immer heiss, schwül, drückend, trotz des Gewitters. Da sitze ich und beruhige meinen Hund, der mich vor 13 Monaten verlassen hat, und schreckliche Angst vor Gewittern erlebte, so dass sie, die Hündin, aufs Ledersofa sprang, das ihr Schutz bot und hechelnd ihre Augen auf die Blitze gerichtet darauf wartete, dass der Sturm abebbte.
Meine alte Freudin F., die ich am Nachmittag besucht hatte, bewegt mich. Sie ist 95-jährig und hat, wie sie sagt, „perdu la tête“. Vor knapp einem Jahr hat sie noch ihr letztes Buch herausgegeben, seitdem stolpert sie am Rollator durch ihre feudale Wohnung im feudalen Seniorenheim, vergesslich, verwirrt, verloren und hin und wieder luzid. Sie schreibt nicht mehr, nur ihre berühmten „billets“, die ihr helfen sollten, sich zu erinnern, die sie aber wegwirft, bevor die entsprechenden Vorhaben stattgefunden haben. Auch an diesem Nachmittag hatte sie unser Rendez-vous vergessen, so dass ich zwei Stunden auf sie wartete. Wir fanden uns dann zufällig, besuchten das Restaurant der Residenz, und wie immer benahm sie sich unmöglich, stiess voller Wur den Rollator in ein Gebüsch, schikanierte die Bedienung – die ausländischen Angestellten stammen aus Ländern, die des Französischen unkundig sind -, Schikanen, die ich immer wieder ausglätten musste. F. wollte „alles“ von mir wissen, sobald ich jedoch etwas erzählt hatte, vergass sie es wieder und ich begann von vorne. Seltsam: so ungeduldig ich normalerweise bin, so geduldig bin ich mit ihr.
Während der Regen vom Boden aufspringt, wird mir bewusst, dass F. auch zu den wütenden Alten gehört. Sie will und kann nicht zufrieden und demütig auf den Tod zugehen. Sie rebelliert gegen ihr Vergessen, ihre Ungeschicklichkeit, ihr Überfordertsein im heutigen, täglichen Leben. Bevor sie ihr Haus im Kirchenfeld verkaufte, ging sie – ohne Rollator – jeden Tag zu Fuss in die Stadt. Sie besorgte ihren Garten und leistete sich nur hin und wieder eine Putzfrau. Sie war oft unterwegs, besuchte Aussellungen, gab Lesungen, war im Vorstand des Schriftstellervereins, schrieb Romane und Kurzgeschichten, war kulturell sehr aktiv. Und wie schnell es abwärts ging … . Im Gegensatz zu vielen Menschen, die schon vor dem kalendarischen Alter geistig verarmt sind, stürzte sich F. immer wieder in neue Projekte und leistete damit dem intellektuellen Abbau Vorschub. Sie ist sich ihrer Defizite bewusst und ärgert sich darüber. Im Lift ihrer Seniorenresidenz ist das wöchentliche Tätigkeitsprogramm aufgehängt. Auch in dieser Institution steht die körperliche Betätigung an erster Stelle.
Der Blitze werden weniger, der Donner hat sich verzogen, es nieselt nur noch. Mir wird kalt. Kalt ums Herz.