mit etwas Fantasie kommt Hoffnung auf. Es geht um den diesjährigen European Song Contest. Zwei französische Chansons belegen die Plätze 2 und 3 – Frankeich und die Schweiz: Ein Streifen am Horizont im englischen Sprachgewirr. Und: Viele Männerstimmen sind höher geworden und gefielen. Es produzierten sich durchaus Machos, doch die Jüngelchen von Chor oder Tanz sahen recht androgyn aus. Der entsetzlichen Rockband aus Italien, die den grössten Publikumserfolg verbuchte und den Wettbewerb gewann, hätte ich zero points gegeben.
Während der Dauer des „Voting“ – ein typischer Anglizismus – präsentierte die Eurovision Sieger früherer Jahre. Dieser Pausenfüller war sehr informativ. Der Unterschied zwischen den Jahren vor und nach 2000 ist frappant. Vor Beginn des 21. Jahrhunderts traten die Kandidaten viel ruhiger auf, sangen vielfach melodiöser, intimer und die Begleitung hüpfte und verrenkte sich nicht. Anstelle der heutigen aufgeputschten und aufgespritzten „girls“ gab es durchaus auch grauhaarige Frauen unter den Sängerinnen.
Was bedeutet dieser Unterschied? Man lebt in einer äusserst nervösen Welt. Kein Mensch steht mehr still, Zeit zum Verweilen gibt es nicht mehr. Man schreit sich die Seele aus dem Leib – schreien statt denken? – und ist ununterbrochen in Bewegung, hüpft, verrenkt und schüttelt sich, als wäre man von Dämonen besessen. Sie erinnern an den Drehtanz der Derwische. Die Hektik wird zudem verstärkt mit Lichteffekten, Wasserfontänen, und Feuerwerken, Pyromanie wie in Fussballstadien. Alle sind derart agil – ein Modeadjektiv aus der Wirtschaft (s. Wikipedia: Agilität ist ein Merkmal des Managements einer Organisation, flexibel und darüber hinaus proaktiv, antizipativ und initiativ zu agieren, um notwendige Veränderungen einzuführen). Nicht agil zu sein ist heute verpönt, man wird als fetter Faulpelz, als denkender Idiot, als Ungesundesser, als träger Langweiler, als Tabakjunkie usw. bezeichnet und mitunter auch beschimpft. Es ist eine Bisenwahrheit: Man ist ein Kind seiner Zeit.
Auch wenn man sich nicht nach der „guten alten“ Zeit sehnt, wäre es ein Ohrenschmaus, wieder getragene, sanfte und zurückhaltendere Lieder, Songs oder Chansons zu hören. Nervosität ist ansteckend und betrügt das Leben.