23. Juni 2022 Doris Schöni 0Comment

Vor über 50 Jahren befreundete ich mich mit B., und zwar beim Fechten. B. war damals noch Gymnasiastin, sie sprach langsam, focht aber sehr schnell und schien etwas gehemmt zu sein. Seltsamerweise verschwieg sie, Linkshänderin zu sein, was im Fechten ein grosser Vorteil ist. Ihre Fechtkarriere begann harzig, bis sie ihre Linkshändigkeit erwähnte. Von da an wurde sie linkshändig trainiert und erzielte sehr schnell riesige Fortschritte. Nationale Turniere gewann sie und an internationalen Wettbewerben war sie regelmässig die beste Schweizerin.

Unser Kontakt wurde lose. Wir trafen uns und verloren uns wieder aus den Augen. Ich wusste, dass sie Psychologie studierte und schwanger wurde. Kurz nach der Geburt präsentierte sie mir ihre – dunkelhäutige – Tochter,. Deren Vater kam, wenn ich mich nicht irre, aus der Elfenbeinküste und lebte in Paris mit einer Landsmännin und mehreren Kindern. B. zog das Mädchen alleine auf und studierte weiter, lebte ziemlich ärmlich; ihr Vater war ein schweizweit bekannter Politiker und ihre Mutter stammte aus einer alten Basler Familie. Ich sah B.s Tochter aufwachsen, sie war ein sehr schönes, grosses Mädchen und eine gute Schülerin. B. war eine strenge Mutter, gewährte ihrer Tochter jedoch viele Freiheiten.

Viele Jahre gingen B. und ich getrennte Wege, ich wusste, dass sie ihr Studium beendet hatte, eine Praxis als Psychologin eröffnete und vornehmlich psycholgische Gutachten für Dienstverweigerer verfasste. Ihre Eltern waren mittlerweile gestorben, B. kaufte ein Haus in Italien und eröffnete eine zweite Praxis im Kanton. Wir trafen uns häufiger und entfernten uns dann wieder grundlos.

Nach langer Zeit meldete sich B. bei mir. Es tönte dringlich. Wir verabredeten uns bei ihr, unterdessen war sie umgezogen. Sie wohnt jetzt in einer Sozialwohnung. Im Treppenhaus befinden sich vor den Wohnungstüren die Schuhe der Bewohner, Kinderwagen, allerlei Gerümpel, Mäntel, Jacken und vieles mehr. Es war Winter und kalr. Sie heizte die Küche heftig. Wir assen am Küchentisch, tranken Wein und rauchten viel. Störend waren (und sind) ihre ständigen Mundbewegungen, begleitet von schmatzenden, saugenden und leise zischenden Tönen. Sie seien bedingt von einem Medikament, einem Pschopharmacum, das einzige, das ihre Psychose vehindere. Sie leide unter Psychosen, war öfters in psychiatrischen Institutionen untergebracht. Unordentliche Menschen, so B., würden als psychotisch eingeschätzt, allerdings würden sie wegen viel schlimmeren Symptomen in psychiatrische Krankenhäuser eingewiesen. Wegen ihren psychotischen Schüben war sie wiederholt eingewiesen worden.

Seit ihrer Jugend verliebte sich B. immer wieder in Männer, die ihre Liebe nicht erwiderten. Ob sie diese Irrungen in ihren Psychotherapien nicht zur Sprache gebracht habe? Nein. Warum nicht, sie seien doch der Schlüssel zu ihren psychischen Problemen? Keine Antwort. Sie wich aus: meine Tochter will mich nur zweimal pro Jahr treffen. Ihre Tochter, abgeschlossenes Sudium in Medienwissenschaften, arbeitet halbtags, lebt mit ihrem Freund und ihren zwei kleinen Töchtern zusammen. Sie lehnt B. ab, kommt wohl nicht zurecht mit deren Psychose.

Sie, die Psychose, ist verantwortlich für B.s Verarmung. Sie war nicht mehr fähig, als Psychologin zu arbeiten. Musste ihre Praxen und ihr Haus in Italien verkaufen. Ihr Auto war irgendwo in Italien, als sie bei der Rückkehr in die Schweiz auf der Autobahn einen psychotischen Schub erlitt, verloren gegangen. Sie hatte sich einmal mehr in einige Männer verliebt, – ohne Gegenliebe. Sie erwähnte wie nebenbei, dass sie Mitte zwanzig von einem Nasen-, Ohren- und Halsarzt vergewaltig worden sei. Dies löste ihre Psychose aus, ist sie überzeugt.

Die Ausfragerei und die schleppenden, schmatzenden Antworten erschöpften mich. Sie tat mir leid, auf der anderen Seite jedoch war ich zornig. Mit ihren 72 Jahren hätte sie die Möglichkeit und die Intelligenz gehabt, ihr Leben weniger destruktiv zu gestalten.

Damals beim Fechten, sie als 18-Jährige war ich, zehn Jahre älter, wohl etwas wie ein Idol für sie. Dieses Idol gibt es nicht mehr. Unbeschwertheit, Übermut, Unverfrorenheit, Sorglosigkeit, Aussicht auf Erfolg und – warum auch nicht? -Berühmtheit erwiesen sich als Schimären. B. ist ein Mädchen geblieben, ein 72-jähriges Mädchen.

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