Der Bericht „Liebe – gibt es sie?“ betraf die Liebesnöte älterer Männer. Und jene älterer Frauen? fragte ein älterer Leser.
Der Unterschied zwischen Männern und Frauen in der späten Liebe besteht darin, dass die reifen Frauen ein anderes Verhältnis zu ihrem Körper haben. Sie vergleichen zwischen vorher und nachher, das heisst, sie sehen sich realistischer und leiden unter den altersbedingten Veränderungen. Vielfach empfinden sie Scham über die Schlaffheit des Fleisches. Waren sie als jung freizügig, ihre Körper zur Schau zu stellen, so entwickeln sie mit zunehmendem Alter eine Art Prüderie, oder besser: Dezenz. Diese geht den meisten älteren Männern völlig ab. Sie nehmen ihre Wänste, Doppelkinne, Krampfadern, herabhängenden Muskeln, schlaffen Augenlider und den oftmals dement blickenden Gesichtsausdruck nicht wahr.
Was die Mentalität betrifft, zu zeigen beide Geschlechter mit zunehmendem Alter eine ähnliche Tendenz: Im Vordergrund stehen Gesundheit, Sicherheit und die Bewahrung derselben Werte, die sie meistens schon als jung definiert haben. Diese Werte sind unverbrüchlich, umgeben sie wie ein Sicherheitsnetz. Werte in Frage zu stellen, bedroht das Gleichgewicht ihrer Identitätsvorstellung. Die körperlichen Veränderungen werden fatalistisch hingenommen, einem Wert abschwören erscheint als Akt der Treuelosigkeit. Was man „schon immer so gemacht“ hat wird man auch „immer so machen“.
Etliche Frauen zwischen 50 und 70 würden nie mehr mit einem Mann zusammenleben wollen. Dies betrifft vor allem geschiedene und verwitwete Seniorinnen. Sofern sie noch rüstig genug sind, verfügen sie zum ersten Mal in ihrem Leben über Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Natürlich gibt es auch viele mittelalterliche Frauen, die über Partneragenturen oder Zeitungsannoncen einen Mann suchen nach dem Motto „lieber zweisam anstatt einsam“. Sie wünschen sich Pendants zum „gut Essen“, „Kuscheln“, „in der Natur sein“, „Campieren“, „Motorradmitfahren“ und so fort. Die meisten unter ihnen sind Nichtraucherinnen, sportlich und „jung geblieben“. Selbst über 80-Jährige sehnen sich nach einem Gefährten, um der Einsamkeit zu entfliehen. Etwa ähnlich viele Männer eines gewissen Alters bewerben sich ebenfalls über Partnerbörsen für „vollbusige“ oder „schlanke“ Frauen und wünschen sich „gut Essen“, „Kuscheln“, „In der Natur sein“, etc. In ihrer Selbstzufriedenheit stellen sie sich als „schön“, „edel“ oder „altlastenlos“ vor. In den Tageszeitungen sucht kaum einer nach einer Begleiterin für kulturelle Anlässe. Sie inserieren wohl eher in Instituten für „Menschen mit einem höheren Niveau“.
Fazit: Der grösste Unterschied zwischen Frauen und Männern im Seniorenalter besteht darin, dass sie ihre Körper verschieden wahrnehmen. Die Männer übersehen ihre körperlichen Veränderungen, die Frauen schämen sich ihrer. Die Frauen sind weniger gewillt, ihre Selbstständigkeit aufzugeben. Sie gehorchen eher ihren Lebenserfahrungen und ihrer Vernunft. Ihre Liebesfähigkeit scheint ziemlich abgenützt zu sein.