Es wird wieder mehr gestorben heute. Das Virus mache uns gleicher, lässt Katja Rost, Professorin für Soziologie an der Universität Zürich, in einem Interview, erschienen im BUND (21. März 2020), verlauten. Das Interview endet benahe prophetisch: „Das Virus verschont tatsächlich weder Arme noch Reiche, weder Industrie noch Entwicklungsländer. Das Virus macht uns gleicher“.
Diese Aussage weckt Erinnerungen an die Bilder des Totentanzes. Der Totentanz oder Makabertanz (französisch „Danse macabre“) ist die im 14. Jahrhundert aufgekommene Darstellung des Einflusses und der Macht des Todes auf und über das Leben der Menschen. Von 1347 bis 1353 starb etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung an den Folgen von Pest, Unterernährung und Missernte. Pestkranke wurden in ihren Häusern eingemauert, angeblich sogar lebendig begraben, Hexenverbrennungen gehörten zur Tagesordnung.
In dieser Zeit kam es an verschiedenen Orten in ganz Europa, besonders aber im deutschsprachigen Raum, zur sogenannten „Tanzwut“; weite Kreise der Bevölkerung wurden von einer exzessiven Vergnügungs- und Genusssucht befallen, „die mit ihren nervösen Krankheitserscheinungen und sexuellen Ausschreitungen weite Kreise beunruhigt und zu öffentlicher Kritik herausgefordert hat“.
Die Obrigkeit hatte wichtige Gründe, die zur Entstehung der Totentänze führten:
So der egalisierende Aspekt des Todes, vor dem alle gleich sind; der in den alten Darstellungen den Armen immer etwas freundlicher gegenübertritt als den Mächtigen und Reichen. So hatten die Totentänze eine gradezu stabilisierende Funktion in der mittelalterlichen Ständegesellschaft, indem sie auf eine später folgende Gerechtigkeit verwiesen.
In Bern gab es bis 1660 an der Klostermauer des ehemaligen Dominikanerklosters am Rande der Altstadt einen Totentanz mit Bildern und Begleitversen von Niklaus Manuel Deutsch (um 1484–1530). Es ist der erste Totentanz in der langen Geschichte dieser Kunstgattung, bei dem der Künstler zweifelsfrei bekannt ist. Der gesamte Zyklus erstreckte sich über die ca. 100 m lange südliche Klostermauer.
Um diese Botschaft der einfachen Bevölkerung nahezubringen, war eine Darstellung mit eindringlichen Bildern und einfachen, gereimten Texten ein optimales Medium.
So hatte der Totentanz im Mittelalter einen starken Bezug zum Leben, indem er zu einem Leben in der „gottgegebenen“ Ordnung aufrief; zu einem „sündenfreien“ Leben in dem Stand, in den man hineingeboren war, und den niemand verlassen konnte.
In Totentanzbilderbogen war der Text Bildern unterlegt, auf denen ein Knochenmann mit Fiedel- oder Flötenspiel die Menschen unterschiedslos in seinen makabren Tanzkreis zwingt. Alle müssen mit, ob hoch, ob nieder, ob alt ob jung: Papst, Kaiser, Kaiserin, König, Patriarch, Erzbischof, Herzog, Bischof, Graf, Abt, Ritter, Jurist, Chorherr, Arzt, Edelmann, Edelfrau, Kaufmann, Nonne, Bettler, Koch, Bauer, Kind und Mutter.
In Totentänzen werden Menschen verschiedener gesellschaftlicher Stellung abgebildet: Männer und Frauen, Junge und Alte, Bischöfe und Bauern tanzen paarweise mit skeletthaften Todesfiguren und werden vom Ranghöchsten bis zum Niedrigsten mit ihrer Vergänglichkeit konfrontiert: Keiner kann sich dem Sterben entziehen, alle sind gleich, wenn der Tod sein „Memento mori“ spricht: „Sei dir der Sterblichkeit bewusst“.
In der augenblicklichen Korona-Pandemie erinnert sich der Mensch an seine Vergänglichkeit. Allen Errungenschaften zum Trotz sind die Menschen der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts so verletzlich wie jene des Mittelalters. Man glaubte, alles „im Griff“ zu haben und ist nun der neuen Seuche ziemlich hilflos ausgeliefert. Die Einkaufszentren sind schwach besucht, die Städte entvölkert und von Autobahnen ist nur ein Säuseln vernehmbar. Die Menschen halten sich Zuhause auf – mit was beschäftigen sie sich? Schauen sie den ganzen Tag TV? Spielen sie Computerspiele? Verarbeiten sie am PC Bilder? Verwandeln sie sich in Heimwerker oder versuchen sie sich als Köche? Psychiater und Psychologen warnen vor häuslicher Gewalt, die bei engen Wohnbedingungen leicht entstehen kann. Der heutige Mensch ist es nicht mehr gewohnt, sich mit sich selbst und seiner nächsten Umgebung zu beschäftigen. Zu viele Aktivitäten hindern ihn daran.
Gleicher? Tod, vor dem alle gleich sind? Nicht ganz. Der Korona-Sensemann greift sich vor allem alte und gesundheitlich angeschlagene Menschen. Die staatlich angeordneten Massnahmen treffen Arme und Reiche völlig verschieden: Den Reichen mit eigenem Haus und Garten, in dem sie lustwandeln und werkeln können, verschaffen sie viele Annehmlichkeiten, die den Ärmeren verschlossen bleiben.In Familien mit mehreren Kindern in einer kleinen Wohnung bewirkt womöglich das enge Zusammensein Frustrationen, Nörgeleien und letztendlich Zwist, der allenfalls auch nach der Epidemie bestehen bleibt. Es ist wohl auch den Reicheren vorbehalten, in ihren Lieblingsrestaurants Leckereien zu bestellen und zu geniessen, ohne dass sie ihre Budgets strapazieren müssen.
Lässt sich die Korona-Pandemie mit den mittelalterlichen Pestzügen vergleichen? Im Mittelalter schob man die Schuld an der Pest den Juden zu, die angeblich Brunnen vergifteten. Heute bezichtigen sich die mächtigsten Staatsoberhäupter der Welt gegenseitig, das Virus über die ganze Erde verteilt zu haben. Die Abertausenden von Toten in Italien und die extremen Einschränkungen in Südafrika sind unwichtiger als die besorgniserregende, katastrophale Weltwirtschaft. Selbst im Angesicht desTodes rechnet der Mensch lieber als er denkt. Die Chance auf gesellschaftliche Veränderungen nutzten weder die Pest- noch die Korona-Opfer. Fazit: Dann lasst uns tanzen, den Totentanz.