12. Juli 2021 Doris Schöni 0Comment

Als ich im magischen Alter war, begegnete ich dem kleinen Prinzen („Le petit prince“) von Antoine de Saint-Exupéry (1900-1944). Ich sass auf unserer grossen Terrasse und plötzlich hüpfte er zu mir. „Wer bist du“, fragte er. „Ich weiss es nicht, ich bin doch noch so klein“, antwortete ich. „Wollen wir zusammen spielen“? Er beförderte farbige Murmeln aus seiner Hosentasche. „Jeder Farbe gibst du einen Namen“, befahl er. Da ich noch nicht so viele Namen kannte, musste mir der kleine Prinz helfen. Er soufflierte Antoine, Cyril, François und mir fiel noch der Name Ernst ein. Wir verbrachten eine längere Weile mit dem Namenrätsel. Meine Mutter rief mich. Ich rief zurück, „ich kann jetzt nicht kommen, ich spiele mit dem kleinen Prinzen“. Neugierig kam die Mutter auf die Terrasse. „Wo ist denn der kleine Prinz“, fragte sie. „Hier, neben mir, wir spielen mit den Namen der Murmel“. Zwischen den Augenbrauen meiner Mutter entstanden einige Runen. „Warum lügst du immer, Kind“? klagte sie. Ich stand auf und lehnte mich gegen das Geländer. „Ich lüge doch nicht. Warum siehst du nicht, was ich sehe“? Verzweifelt verliess meine Mutter den Sonnenschein. Ich hörte sie am Esstisch weinen. Der kleine Prinz wunderte sich: „Warum weint deine Mutter“? Ich schüttelte den Kopf. Er wiederholte lauter: „Warum weint deine Mutter“?“Sie glaubt, ich lüge“, stammelte ich. „Weisst du“, belehrte mich der Prinz, „die meisten erwachsenen Menschen tragen eine Brille“. „Meine Mutter trägt keine Brille“. „Ihre Brille ist unsichtbar, trübt aber die Sicht“. Ich verstand den kleinen Prinzen nicht. „Nun muss ich aber schleunigst nach Hause“, erklärte er hastig. „wo bist du denn zu Hause“, er wies gegen den Himmel: „dort, wo die Wolken am hellsten scheinen“. Aus Angst vor der weinenden Mutter fragte ich: „darf ich mit dir kommen“? Schon in der Schwebe rief er: „Ich komme wieder. Ciao, kleines Mädchen, ich werde dich vor einer Brille bewahren“. Er verschwand in den Wolken. Seine Murmeln hatte er vergessen. „O, das ist ja Ernst“, lächelte ich, während mir die Tränen übers Gesicht liefen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert