In der NZZ am Sonntag (18.6.17) warnt ein Artikel über den Vormarsch des Antisemitismus in Europa. 72 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs, während dessen 5,6 bis 6,3 Millionen europäische Juden ermordert wurden, geistern erneut altbekannte Vorurteile und Klischees durch die Gehirne vieler Europäer. Besonders verwerflich ist der Antisemitismus bei Staatspräsidenten, zum Beispiel jenen von Ungarn und Polen. Mit längst revidierten Anschuldigungen gegen die Juden als „Brunnenvergifter“, „Räuber von christlichen Kindern“ oder „Kreuziger von Jesus Christus“ sowie mit der Kritik am Staat Israel wird der Antisemitismus wieder salonfähig. Verflogen ist die Begeisterung für das kleine Land Israel nach dem Sechstagekrieg, mit dem sich die Schweiz identifizierte.
Der Antisemitismus zeige sich, so die Filmemacher Joachim Schröder und Sophie Hafner in der TV-Dokumentation („Auserwählt und ausgegrenzt“), die vom Fernsehsender „Arte“ nicht ausgestrahlt wird, unter dem Deckmantel des Antizionismus oder der Israel-Kritik. Die Judenfeindlichkeit sein „kein Phänomen der grobschlächtigen Neonazi-Szene“, sondern ein Gemisch aus Israel-Hass und judenfeindlichen Stereorotypen aus der Mitte der Gesellschaft, schreibt die Medienforscherin Monika Schwarz-Friesel von der Technischen Universität Berlin.
Dass zum Beispiel in Deutschland Juden öffentlich verprügelt werden, sei ein Armutszeugnis, sagt der Leiter des Anne-Frank-Zentrums in Berlin, Patrick Siegele. Auch in der Schweiz, besonders in Zürich, werden – erkennbare Juden – drangsaliert. Im Mai 2016 wurde eine Gruppe Jugendlicher auf dem Weg ins Fussballtraining des jüdischen Sportklubs Hakoah im Kreis 2 beschimpft, geschubst und geohrfeigt. Im Juli desselben Jahres attackierten rund 20 Personen, einige unter ihnen vorbestraft wegen nationalsozialistisch motivierter Vergehen, einen orthodoxen Juden in Wiedikon. Der Gläubige wurde geschubst und beleidigt.
Der latente Antisemitismus grassiert auch in der Schweiz weiter. Bedeutsames Stirnrunzeln bei der Nennung eines jüdischen Namens, Der Zusatz „aha, ein Jude“ bei einem Prominenten, von dem nie erwähnt würde, er sei Katholik oder Mitglied einer Freikirche, auch die Bemerkung „die Juden sind eben intelligent“ ist bereits eine Art Beleidigung, weil ja nicht diese oder jene Person intelligent ist (scheint), sondern seine Religionszugehörigkeit dafür verantwortlich ist. Der abfällige Satz über die Geschäftstüchtigkeit und Raffgier der Juden steckt unausrottbar in den Köpfen der schweizerischen Durchschnittsbürger, die keine Ahnung von der Geschichte der Juden in der Schweiz haben. Solche Durchschnittsbürger befassen sich nicht mit deren Geschichte, zum Beispiel mit dem Artikel über das Judentum im Historischen Lexikons der Schweiz. „Die Berufe der Juden spiegeln ihre Funktion in der christlichen Gesellschaft wieder: Geldgeschäfte, Pfandleihe und Heilkunde. Bekannt sind jüdische Ärzte, z.B. Vibranus de Turre und Meister Ackin aus Vesoul in Freiburg. Belege für jüdischen Reichtum sind selten (Wandmalereien im Haus der Brüder Moses und Mordechai ben Menachem und deren Mutter Minne in Zürich). Das jüdische Leben war geprägt von sozialer Ausgrenzung und Marginalisierung. Die Juden durften weder einen handwerklichen noch einen landwirtschaftlichen Beruf ausüben, der Zugang zu politischen Ämtern und Zünften blieb ihnen verwehrt und sexuelle Kontakte zu Christinnen wurden mit hohen Bussen geahndet“. Früher wie heute beherrscht die Ignoranz das Denken der Menschen … .
Diebold Schilling, Spiezer Chronik (1484/85), S. 62: Die Kinder des Zähringers werden vergiftet. (Geschichtlich nicht nachweisbar.) (Burgerbibliothek Bern)