9. Juni 2021 Doris Schöni 0Comment

Mittlerweile ist sie 94 Jahre alt geworden. Die Freundin einer verflossenen Zeit. Die Schriftstellerin, die eben ihr letztes (letztes?) Buch herausgegeben hat, eine Biografie mit alten Fotografien, Bildern ihrer Eltern, der früh verstorbenen Mutter und des autoritären, eitlen Vaters „mon père, le vétérinaire“, hoch zu Pferd, des Bruders, zu seiner Zeit der jüngste Physik-Professor der Schweiz und der beiden Schwestern, beide Akademikerinnen. Ihr Gatte, Arzt und Fischer, go kart-Fahrer, Untreue, im bürgerlichen Sinn, von beiden Seiten. Ihrer vier Töchter, heute Grossmütter, wobei jede ein Kapitel über ihre Mutter zur Publikation beigesteuert hat.

Ein prall gefülltes Leben. „Nous, les intellectuels“. In der literarischen Szene fest verankert, das Proletarische ihrer Kollegen fand sie bemühend, sie, die die Form immer über den Inhalt stellte, ihre Liebhaber waren Legion „j’aime l’amour“ mehr als den Menschen, sie war – wie die meisten Ehefrauen und Mütter ihrer Generation – süchtig nach Anerkennung, die ihr im reiferen Leben reichlich zuteil kam, bekannte Verleger publizierten ihre Romane und Kurzgeschichten, Zeitungsartikel lobten sie, Vorlesungen über ihr Werk fanden statt, sie hielt Vorträge, spannende, amüsante Selbstdarstellungen, eine geborene Erzählerin, eine leichte, aber dennoch reiche Sprache, man  riss sich um sie für Einladungen und Veranstaltungen, an denen sie jeweils die erste Frage stellte. Ihre Selbstdisziplin, „une certaine rigueur“ inbegriffen. Im „Salon du livre“ in Genf war sie ein gern gesehener Gast, der in Diskussionsrunden die Lacher auf ihrer Seite hatte. Ehrungen in ihrem – jungen – Kanton, einem Kanton, der sich anders als die anderen besonders um Kultur bemüht, verwandt mit Poeten und befreundet mit Malern und Kulturschaffenden. Ein ihr nahe stehender Literatur-Professor bezeichnete ihre Romane als „broderie“, was sie erzürnte. Wie viele Schriftsteller schrieb sie immer wieder denselben Roman mit neuen, alten Protagonisten und verbrämt mit eleganter Sprache.

Nun geht sie am Rollator, residiert in einer fürstlichen Einrichtung, ist einsam und „je perds la  tête“. Diese Einschätzung entspricht der Wirklichkeit. Ihr Gedächtnis ist löchrig geworden, damit sie nicht gefragt wird, fragt sie dauernd, vergisst aber sogleich die Antwort. Diskussionen über irgend ein Thema sind nicht mehr möglich. Sie verhaspelt sich, lenkt und schweift ab, findet nicht zurück. „Je perds la tête“. Luzide Erkenntnis. Ist ihr letztes Werk, das sie sich selber widmet, ein Bollwerk wider das Vergessen? Ihr handschriftlicher Nachlass wird bereits von der Kantonsbibliothek verwahrt und verwaltet, sie wird als Berühmtheit in die junge Geschichte ihres Kantons eingehen.

Im hohen Alter einsam. Vom Leben vergessen, im Tod ein Urgestein. Ihre Sprache entspricht nicht der heutigen, schlampigen, verrohten Ausdrucksweise.“Il faut créer des souvenirs“ sagte sie und meinte damit ihre elf Enkelinnen und Enkel, sie hinterliess nicht nur bei ihren Nachkommen Erinnerungen, Erinnerungen, die fortdauern, deren man sich schämt oder über die sich Anekdoten gebildet haben, die man ungeschehen vergessen möchte, immer entsinnt man sich der Wahlverwandtschaft, die sich beim Hören barocker Musik und beim Betrachten von Kunstwerken offenbarte. Archetypen? Ihre Freude liebten, ihre Liebhaber verabscheuten mich. In ihren ersten Romanen war immer wieder die Rede vom „l’homme roi“. Nachdem sie mich kannte, waren die Männer keine Könige mehr, sie gab ihnen fortan in ihren Romanen keine feste Bezeichnung.

Wie eh und je diese Unstabilität: Neue Menschen, neue Erkenntnisse, neue Vorlieben, neue Sprachen, ein neuer Job auch. Wir verloren uns, irgendwie. Sie pubizierte Bücher, ich schrieb Artikel und begann, mich über ihren Schreibstil zu ärgern. Dem Journalismus verschrieben, empfand ich ihre Andeutungen, vagen Erklärungen, eleganten Pirouetten als Heuchelei einer verlogenen spiessbürgerlichen Gesellschaftsschicht. Sie wusste nichts von dieser Beurteilung. Wir alterten beide beträchtlich, aber nicht gemeinsam.

Ihren 94. Geburtstag feierte sie bereits in ihrer fürstlichen Einrichtung. Zusammen mit zwei ihrer Töchter verwöhnten wir die alte Dame. Sie war gerührt und voller Dankbarkeit. Die Fordernde war zu einer Bittenden geworden. Die selbstsichere Schriftstellerin, wo war sie geblieben? Die Alterskeule traf sie mit voller Wucht: Bescheidenheit, Dankbarkeit, Demut. „Und wenn sie nicht gestorben sind …“. An ihre Geburtstagsfeier erinnerte sie sich zweieinhalb Monate später nicht. „Je perds la tête“ … .

Einer ihrer engsten Freunde war ein katholischer Priester. Ein bonvivant mt sportlichem Auto. Er fuhr sie aus.Vor allem aber kümmerte er sich um ihre Informatik und schenkte ihr seine  abglegten Computer. Sie beherrschte eine einzige Methode, um ihre Worte – eine ihrer Kuzgeschichten trug den Titel „Les mots“ – in den Computer zu tippen. Sie verwahrte sich gegen besseres und effizienteres Computer-Wissen. Sie verzichtete nie darauf, ihre Buch-Entwürfe von Hand mit Bleistift in grosse Hefte zu schreiben. Sie beliess es nie bei einem Entwurf. Sie verfasste deren drei bis vier, und  auch die letzte Version war überkritzelt, voller Korrekturen und Änderungen. Der Priester wurde bis zu seiner Pensionierung umschwärmt von älteren Kirchgängerinnen, eleganten, gechmückten Damen einer gewissen Gesellschaftsschicht. Sie wurde beneidet von ihnen, da sie dem Priester näher stand und mit ihm befreundet war. Dem erzkatholischen Glauben aus ihrer Jugendzeit war sie untreu geworden. Sie suchte nicht mehr nach Gott, sondern nach Spiritualität. Was sie darunter verstand, verriet sie nicht. Sie fürchtete den Tod nicht, wie alles im Leben antizipierte sie ihn. Nun tauchen wieder Worte auf, unvergessene Wortbilder, wie zum Beispiel „les allongés“ oder „je suis raide morte“. Sie hasste Überraschungen, dem überraschenden Tod gab sie mildernde Umstände.

Sie hatte ihre Todesanzeige vor Jahren schon verfasst, die bei ihrer Verabschiedung zu spielende Musik festgelegt, ihre Bekanntenkartei durchforstet und die Umschläge für die Anzeigen geschrieben. Einen grossen Teil ihrer Möbel und Bilder hatte sie, wie ihres Vermögens, den vier Töchtern beim Auszug aus ihrem Haus übergeben. Ihre liebsten Möbel und Bilder umgeben sie in ihrem neuen Zuhause.

Sie blieb mir fremd in dieser neuen Umgebung. Vielleicht war sie mir immer fremd, ohne dass ich es wahrhaben wollte. Auch Wahlverwandtschaften sind fragmentiert und Freunschaften im Sinne Platos weisen Defizite auf.

Sie wird sterben und ihre Töchter, Enkel, Urenkel und ich werden um sie trauern. Im Tod wird sie den Kopf nicht verloren haben.

 

 

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