22. Mai 2020 Doris Schöni 0Comment

Es war einmal … oder es war so: Ich sterbe und es ist wie das Eintauchen in einen tiefen, schweren Schlaf. Als ich erwache befinde ich mich in einem riesigen Saal vollgestellt mit Vexierspiegeln. Ich betrachte die verzerrten Bilder von mir, die von der Geburt an bis zum Tod mein Leben dokumentieren. Dass ich in einem Spiegel spindeldürr und im nächsten kugelrund bin, lächert mich. Ein fou-rire erfasst mich, und ich kann nicht aufhören, zu lachen. Plötzlich tritt zwischen den Vexierspiegeln eine jüngere Frau auf mich zu. Sie sieht aus wie eine Bankangestellte, trägt ein Deux-Pièces, Strümpfe und Schuhe mit hohen Absätzen. Sie fragt:“Kann ich dich sprechen“? „Ja, bitte“, antworte ich etwas unwirsch, denn ich hasse es, von Unbekannten einfach geduzt zu werden. „Hattest du einen schönen Tod“? möchte sie wissen, etwa so wie man einen Reisenden fragt, ob der Flug schön gewesen sei. Mit „keine Ahnung“ versuche ich, sie abzuwimmeln. „Ich möchte dir“, erklärt sie, „einen Frageboden geben, den du bitte nach Treu und Glauben ausfüllen wirst“. Sie drückt mir ein Mäppchen mit vielen bunten Blätter in die Hand. „In drei Tagen hole ich die Papers wieder ab“, und entschwindet zwischen den Vexierspiegeln.

Ich zähle die vielen bunten, unpaginierten Blätter nicht, beginne aber, sie zu foliieren, also 1recto und 1verso, etc, wie es sich gehört. Vom Inhalt bekomme ich wenig mit, mir fallen aber die vielen Bildli und Zeichnungen auf, ähnlich wie jene in den heutigen Lehrmitteln. Als ich endlich zu Ende foliiert habe, bin ich zu müde, um zu lesen, also falle ich wiederum in einen tiefen, schweren Schlaf. Am Morgen werde ich entgegen meinen Erdengewohnheiten, bis Mittag zu schlafen, früh mit einer schmissigen Musik geweckt. Diese Weckunkultur erinnert mich an die Trainingslager in der Eidgenössische Hochschule für Sport Magglingen der 1960er Jahre. Alsdann fordert mich eine sonore Männerstimme auf, mich ärztlich untersuchen zu lassen, und zwar im Saal Nummer 365. Dort empfangen mich drei Weissgewandete und bugsieren mich auf eine lebensgrosse Glasplatte, ähnlich eines Fotokopierers. Der starke Lichtstrahl durchleuchtet mich und wärmt meinen Körper. Einer der Weissgewandeten springt auf und spricht: „Ein COPD. Du hast also zuviel geraucht“. Ich ärgere mich über seine Duzerei. Sie scheint für dieses Zwischenlager, in dem ich mich befinde, typsch zu sein. Proleten, denke ich. Eine der Frauen in Weiss scheint Gedanken lesen zu können. Sie doziert: „Du beurteilst uns als Proleten. Wir sind Proleten. Das ist zwar ein Malapropismus, denn wir sind Wissenschafter mit proletischem Hintergrund“.

Ich werde in mein Zimmer geleitet  und darauf aufmerksam gemacht, den Fragebogen auszufüllen. Und zwar ist Muliple Choice – wie heute üblich – angesagt. Ich hasse Multiple Choice, da er unpräzise ist, keine differenzierten Antworten erlaubt. Wieder eine Konzession zu Gunsten der geistig Unterbemittelten, selbst imTod. Glücklicherweise ist der Fragebogen gedruckt, muss also nicht am Computer ausgefüllt werden, der ausser Kreuzen keine Kommentare erlaubt. Schon die erste Frage regt mich auf „Warst du ein glücklicher Mensch?“ Ich  kreuze das „Nein“ an und schreibe „Ist das Glück das höchste Gut des Menschen?“ Auf die Frage, ob ich wilde Blumen gepflückt habe, empfehle ich der Geschäftsleitung das Lied „Sah ein Knab ein Röslein stehn, Röslein auf der Heiden“, von Johann Wolfgang von Goethe (1771) und vertont von  Robert Schuman und Franz Schubert. Beinahe alle Fragen beantworte ich mit einem Kommentar. Auf der sechsten Seite unter der Nummer 222 steht: „Hast du je einen Menschen geschlagen?“ -„Ja, du Gutmensch, und einen habe ich fast getötet; in meiner Fantasie habe ich etliche totgeschlagen, die ich noch heute, obwohl tot, umbringen möchte“. Wie Deus ex machina ertönt eine männliche Stimme: „Warum?“ Ich schweige. Dann kritzle ich auf den Fragebogen: „Weil sie mir Unrecht getan haben“. Männliche Stimme:“Egotistin“. Ich schreie: „Soll ich etwa den Jesus-Spruch ‚Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin‘ (Matthäus 5,39), befolgen?“ Und schreibe auf den Bogen: „Bin ich etwa pplödd?“

Am liebsten würde ich das Zwischenlager verlassen. Das Hotel mit den festmontierten Bildern hinter den Fenstern vom Meer, mit den Landschaften, den Städten und ihren Sehenswürdigkeiten verlassen. In der Lobby meine Rechnung bezahlen, ein Taxi bestellen lassen, einsteigen und  befehlen: „Zum Flugplatz“. Aber ich bin ja tot, von allen guten Geistern verlassen und in der Quarantäne des Zwischenlagers. Das Zwischenlager,  eine Mischung von Rekrutenschule und Trainingslager. Das Einzige, was in diesem Szenario fehlt, ist der Muskelkater.

Die männliche Stimme von oben mahnt, den Fragebogen  fertigzustellen. „Keine Lust mehr“, schreibe ich. „Nur noch drei Fragen“, stellt die Stimme fest. Drittletzte Frage: „Glaubst du an eine höhere Macht?“ „Nein“. „Ja, die Wirtschaft“. „Jaja, die Dummheit der Menschen“. „Vielleicht, die Freundschaft“. „Ganz sicher nicht, der liebe Gott“. Zweitletzte Frage: „Wo möchtest du in deinem nächsten Leben leben?“ „In einem Land, in dem Vorschriften und Gesetze sowie die Mentalität „Keine Macht – kein Recht“  fehlen. Aus dem Konkurrenz und Bösartigkeit verbannt sind und die Kultur über dem Kommerz steht. In dem die Menschen über einen Intelligenzquotient von mindestens 140 verfügen“.

Was wohl nach der letzten Frage folgt? Werde ich in eine Stinkwanze, einen Mirabellenbaum, eine (bitte blaue) Libelle, einen Papagei, ein (bitte schwarzes) Schäflein oder eine bitterböse, hinterlistige, intrigante Frau verwandelt? Mit einem Klumpen im Magen setzte ich die Brille auf. Letzte Frage: „In welches Objekt oder Subjekt möchtest du verwandelt werden?“ Fragende Antwort: „Wieviele Objekte und Subjekte müssen aufgezählt werden?“ Von oben die sonore Stimme: „Mindestens drei“. Ich kämpfe gegen irdische Tränen und paradiesisches Lachen. Und schreibe: „Nur ein Objekt: Eine leere Tasse mit Goldrand“. Das Fallbeil fällt: Endlich werde ich gestorben.

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