6. Juli 2019 Doris Schöni 0Comment

Norbert Herschkowitz ist gestorben. Sein Wissen, sofern es nicht in Publikationen festgehalten wurde, geht mit seinem Tod unwiderruflich verloren. Noch ist es nicht möglich, Gehirninhalte elektronisch zu konservieren. Herschkowitz‘ Gattin, Elinore, eine Pädagogin, hat ihn  lebenslang bei seinen Studien und Forschungen begleitet und unterstützt. Ihre Trauer muss sehr schmerzhaft sein.

Hirnforscher Herschkowitz war ein temperament- und humorvoller Referent. Es war ihm gegeben, an Vorträgen auch ein Publikum zu fesseln, dem sein Wissensgebiet nicht geläufig war. Es ist unvergesslich, wie er in einen vollen Saal rief: „Das Bauchgefühl gibt es nicht“. Für ihn war das heute immer wieder bemühte „Bauchgefühl“ eine Leistung des Gehirns. Das Gehirn erzeugt das Bauchgefühl, nicht umgekehrt.

Um seiner zu gedenken und ihm posthum für seine Nachforschungen zu danken, folgt ein bereits publizierte Bericht über einen Vortrag aus dem Jahr 2007:

„Das Bauchgefühl hat nichts mit dem Bauch zu tun“

Professor Norbert Herschkowitz hat sich Zeit seines Lebens mit dem menschlichen Gehirn befasst und gehört weltweit zu den bedeutendsten Hirnforschern. „Das Gehirn“, das haben seine Recherchen ergeben, „ist die komplexeste Struktur des Universums“.

Als Medizinstudent hat Nobert Herschkowitz Vorlesungen über den Schweizer Arzt Jakob Guggenbühl (1816-1863) besucht, der 1841 bei Interlaken eine „Heilanstalt für Kretinen (so nannte man zu jener Zeit geistig Behinderte) und blödsinnige Kinder“ gründete, die weltweite Beachtung fand, weil er erkannt hatte, dass Behinderte Menschen mit einer Seele sind, deren Gehirn anders funktioniert. In den sechziger Jahren lernte Herschkowitz in London die Chemie des Gehirns und wenig später an der Medical University in Stanford, California, begann er mit seinen Hirnforschungen. Zu jener Zeit habe man angenommen, dass Neunzigjährige keine Neuronen mehr im Gehirn haben, was er in seinen Forschungen widerlegte: Bis etwa zum hundertsten Altersjahr bleiben ungefähr neunzig Prozent der Nervenzellen erhalten. Wohl verliert man davon, aber sie bilden sich – aus Stammzellen – neu, und zwar etwa tausend im Tag.

Das Netzwerk

Der Mensch verfügt über hundert Milliarden Nervenzellen, die alle zusammen vernetzt sind. Die Entwicklung des Netzwerkes nimmt mit dem Alter zu. Besonders zwischen fünf und fünfzehn Jahren sei eine grosse Steigerung zu beobachten, erklärte Professor Herschkowitz und fügte bei, bei Jugendlichen sollte eigentlich dieses Potenzial besser ausgenützt werden. Zwischen 30 und 45 stagniert die Vernetzung etwas, um dann bis 65 deutlich zuzunehmen. Die jeweilige einzigartige Wechselwirkung von Genetik, Aktivität und Umgebung verursacht die Einmaligkeit des menschlichen Gehirns.

Die Sinne – sehen, hören, fühlen und bewegen – haben einen kleinen Platz im Gehirn. Dessen grösster Teil besteht in Verarbeitung und Assoziationen. Die Plastizität des Gehirns bezieht sich auf dessen lebenslange Eigenschaft, auf körperliche und geistige Aktivitäten mit biologischen Veränderungen zu reagieren und sie neuen Situationen anzupassen. Dieses Phänomen erlaube, so Norbert Herschkowitz, ein lebenlanges Lernen, aber auch Rehabilitation und Psychotherapie. Das Gehirn wird durch Psychotherapie verändert, denn es ist formbar und plastisch. Das „Bauchgefühl“, das heute so oft erwähnt wird, habe, so Professor Herschkowitz, nichts mit dem Bauch zu tun, da Denken und Fühlen in dieselbe Richtung gehen.

Der Hirnnerv ist mit einer Isolierschicht (Myelin) umgeben, die für „eine schnelle Leitung“ – 40 bis 60 Meter pro Sekunde – verantwortlich ist.

Die Nervenverbindungen im Laufe der Jahre

Bis zum zwanzigsten Altersjahr haben haben Frauen eine bessere Verbindung, mit dreissig haben die Männer diesen Rückstand aufgeholt und zwischen fünfzig und sechzig nehmen die Verbindungen bei beiden Geschlechtern zu. Der Zusammenhang zwischen der linken und rechten Hirnhälften ist bei Frauen ausgeprägter. Ihr linker Mandelkern (Sprache) ist aktiver, bei Männern der rechte (Gefühl). Norbert Herschkowitz: „Männer haben also viel mehr Gefühle als Frauen“.

Keine wesentlichen Unterschiede bestehen bei den Geschlechtern bei

  • logischem Denken

  • Verstehen komplexer Zusammenhänge

  • moralischen Vorstellungen

  • Gerechtigkeitsempfinden.

Die Unterschiede zwischen Frauen und Männern sollten nicht zur Diskriminierung, sondern zur Bereicherung führen.

Der Charakter des Menschen verändert sich. Das Denken und Fühlen in der zweiten Lebenshälfte haben andere Qualitäten als in jüngeren Jahren:

  • Balance zwischen positiven und negativen Gefühlen

  • abwägenderes Urteilen

  • philosophisches Denken

  • Die Qualität ist wichtiger als die Quantität

  • Der Sinn des Lebens wird wichtig..

Zum Schluss seines Vortrages wunderte sich Professor Norbert Herschkowitz über die hohe Zahl von Schweizer Kindern, die eine Sonderschule besuchen, da sie Sprachrückstände aufweisen. Den Grund dafür ortet Norbert Herschkowitz in der mangelnden Kommunikation zu Hause. Es seien meistens Kinder aus bildungsfernen Familien, welche diese Sprachdefizite aufwiesen, aber es gebe auch Kinder, die sich trotz dieser Bildungsferne sehr gut entwickelten.

Biografie:

Norbert Herschkowitz wurde 1929 in Basel geboren und ist Kinderarzt und Neurowissenschafter. Er leitete von 1969 bis 1994 die Abteilung für Entwicklung und Entwicklungsstörungen an der Universitäts-Kinderklinik in Bern. Von 1982 bis 1994 war er Ordinarius für Pädiatrie an der Universität Bern. Seit seiner Emeritierung ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Harvard University in den USA.

 

 

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