17. März 2021 Doris Schöni 0Comment

Aus unerklärlichen Gründen hatten wir uns eine lange Zeit nicht mehr gesehen. Ausgerechnet am 94. Geburtstag seiner Schwiegermutter und meiner Freundin erschien er – und ich erschrak zutiefst. Er war er und er war nicht er. Ein wackliges, schmales, völlig bleiches Männchen, mit grossen Augen, die verängstigt blickten, stand mir gegenüber. Wir witzelten wie eh und je, seine Sprache war langsam geworden, langsam und schleppend. Während wir standen berichtete er mir in Stichworten von seinen letzten gesundheitlichen Unbillen.

Der Schwiegersohn meiner 94-jährigen Freundin ist ein Wiedergeborener. Als sein Herz immer schlechter funktionierte mit bald 70 Jahren, wagte ein Universitätsspital eine Herzplantation, und zwar an einem für diese Operation zu alter Person. Eine solche  Herzplantation war eine Sensation, sie wurde im TV gezeigt und das universitäre Krankenhaus war stolz über den Prestigesprung nach vorne.

Bevor sein Herz ausgetauscht wurde, vergingen Monate. Dann gab es für den Herzkranken kein Zögern mehr. Ein Spenderherz war bereit, eingesetzt zu werden. Während Wochen, vielen Wochen, pendelte der Schwiegersohn meiner Freundin zwischen der Welt der Lebenden und jenen im Hades Vermuteten. Wochenlang war er von der Panik besessen, das Herz eines Mörders in seiner Brust schlagen zu hören. Eines Kindermörders. In seiner Aufregung dachte er daran, die Operation rückgängig zu machen. Als er nach langer Zeit endlich wieder Zuhause bei seiner Frau lebte, war er – vornehmlich körperlich – anders als vor der Transplantation. Sein Haar war dichter, von einer neuen Beschaffenheit und wieder braun. Seine Medikamentenbatterie war enorm und alle paar Wochen landete er im Spital: Die Medikamente nützten ihm soviel sie ihm schadeten. Und dann bereute er mehr und mehr, in diese Herzoperation eingewilligt zu haben. Er wäre lieber gestorben als wiedergeboren zu werden mit all diesen Schmerzen und Qualen. Er hatte aufgehört zu rauchen und dem Alkohol entsagte er meistens.

Die längere Stille zwischen uns war mitunter unterbrochen von Mitteilungen, sein neues Herz sei alt und schwach geworden.

Als er vor mir stand in seiner Schlabberhose, durchsichtig und hinfällig geworden, mit fahler Gesichtsfarbe, einem verlangsamten Gang, zögerendem Sprechen und einer tränenerweckenden Traurigkeit kamen die Stichworte gebrochenes Bein, Reha in einer bekannten Institution, dort angesteckt mit dem Virus, fünf Wochen Krankenhaus … .

Früher wurden die Worte zwischen uns wie Bälle hin- und hergeworfen. So tat ich mein Bestes, ihn und die anderen zum Lachen zu bringen. Meistens musste ich meine verzweifelt lustigen Sätze wiederholen, damit er verstand, dass sie ihn belustigen sollten. Und die Stichworte gebrochenes Bein, Reha und dort Corona verseucht, werden noch lange nachhallen.

 

 

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