… versucht man sich zu erinnern, wie es war, früher an Ostern, als man jung nicht mehr an den Osterhasen glaubte und vielleicht Schokoladen-Eier und Zuckerhäschen in sich hinein stopfte. Aber man erinnert sich an nichts, an abernichts. Eier gesucht? Eier getüpft? Nestlein geplündert? Freudenschreie ausgestossen? Glück empfunden? Nichts. NICHTS. Le néant.
Alles vergessen, verdrängt, vergraben. Möglicherweise war der Vater einmal mehr verstummt. Nach jeder Eheszene verstummte der Vater. Tage- und wochenlang. Am Essenstisch herrschte eine dumpfe Feindseligkeit. Als Kind versuchte man, die angstvolle Stimmung zu durchbrechen. Man „tat blöd“. Begann mit dem Essen zu spielen, wieder zu schmatzen, zu kleckern, frass mit den Fingern und putzte die verdreckten Hände am Tischtuch ab. Man stellte die Eltern auf Probe, provozierte sie bis aufs Blut, auf dass etwas geschehen würde, die Stille endete, die Mutter explodierte und der Vater endlich wieder die Stimme erhob. Was hätte man als Kind unternehmen müssen, um sich nicht schuldig zu fühlen, sich die Schuld zuzuschieben, ohne schuldig zu sein? Obwohl man von der nächtlichen Szene geweckt worden war, als die Mutter zischte und der Vater weinte, zuhören musste und doch nicht wusste, ob der Zwist wegen der eigenen Person ausgebrochen war.
Wortlose Ostern. Trübe, schale Ostertage. Man fror, obwohl das Wetter Sandalen empfahl. Stritten sie sich, weil man einmal mehr die neuen Sandalen in drei Tagen geschlissen hatte? Oder hatte sich ein Nachbar in diesem schrecklichen Mietshaus voller Bünzlis – sie erkannte man schon als Kind – wieder beschwert? Hatte man ihn im Eifer des Ballspiels nicht gegrüsst oder vergessen, sich die Schuhe am immer sauberen Hausvorleger zu putzen? Hatte man im Keller Fussball gespielt, was doch ausdrücklich verboten war? Hatte man schon wieder die „Hausordnung“, die im Eingangsbereich gut sichtbar aufgehängt war, missachtet? Die sakro-sankte „Hausordnung“? Nach der alles untersagt war, das Teppichklopfen bis zum Verbot des Wäscheaufhängens auf dem Balkon? Warum erinnert man sich an die verhassten „Hausordnungen“ und nicht an das Ostereiersuchen? Warum haben sich die Mieter nicht gegen die „Hausordnung“ gewehrt? Warum unterzogen sich die Hausfrauen, es gab ja nur Hausfrauen zu jener Zeit, dem Verwalter, der alle paar Wochen auftauchte und für Ordnung sorgte? Warum duckten sie sich und versprachen Besserung, wenn er etwas beanstandete – zum Beispiel ein Staubkörnchen in der Waschküche – anstatt ihn zwischen die Beine zu kicken?
Trübe, schale Ostertage mit falschen Erinnerungen. Erinnerungen an Angst. An Angst vor stummen Ostertagen, vor „Hausordnungen“, Nachbaren, Verwaltern, Zucht und Ordnung. Schale, trübe Ostertage. Wen wundert’s?