16. März 2018 Doris Schöni 0Comment

Seltsam, von der Altersarmut eingeholt zu werden. Vierzig Jahre hat man mit einem nicht berauschenden Verdienst, da man zu „vornehm“ war, nach Gehaltserhöhungen zu bitten, relativ komfortabel, unverheiratet, lediglich eine Zeitlang als Konkubine, ohne Unterstützung eines Ehemannes, wie dies zu ihrer Generation die Regel war, gelebt. Dann fiel unvorbereitet eine Nebenbeschäftigung weg, die während vierzehn Jahren nach der Pensionierung für ein recht unbekümmertes Auskommen sorgte. Man wird sich gewahr, dass man über seine Verhältnisse gelebt, es also versäumt hat, etwas auf die Seite zu legen.

Von der Altersarmut eingeholt zu werden, scheint vorerst unwahrscheinlich. Doch plötzlich wird die Unwahrscheinlichkeit Realität. Mahnungen und Betreibungen treffen ein, da man es aus Lust und Laune „vergessen“ hat, Steuern zu bezahlen und Rechnungen zu begleichen. Auf Sorglosigkeit folgt Panik, nein, nicht sofort. Zuerst holt man sich Rat bei Freunden. Einer davon ist rechnerisch und wirtschaftlich versiert, erklärt sich bereit, die Buchhaltung zu übernehmen und Ordnung ins Zahlenchaos zu bringen. Nach der Sichtung und dem Bezahlen dringendster Posten unter dem Einsatz eigener Mittel verordnet er apodiktisch „Sparen“, ein Ausgabenheft mit täglichem Eintrag und der alarmierenden Mitteilung, die Schwester müsse das Defizit äufnen, sonst, ja sonst stehe der Betreibungsbeamte vor dem ohnehin viel zu teuren und für eine Person viel zu grossen Haus. Zudem zieht er die Kreditkarte ein, denn „du bist einfach masslos“.

Die Schwester bezahlt. Ein Freund und Nachbar möchte sich an den Wohnkosten beteiligen. Esskonferenzen werden anberaumt. Vor dem Essen redet man Klartext. Man schreit sich an. Nein, die über-die-Verhältnisse-Lebende bleibt wider Erwarten still. Das Nichtführen des Ausgabenheftes wird nicht erwähnt. Die drei vor-der-Insolvenz-Retter reden durcheinander, fordern, fordern, fordern.

  • Schränke das Rauchen ein oder gewöhne es dir ab
  • Warum kaufst du so viele Trauben und Clementinen? Schränke dein übertriebenes Fruchtverlangen ein.
  • Warum kaufst du Spezialfutter für die Katzen? Bis du hier einzogst, waren sie mit der Normalernährung zufrieden.
  • Warum kaufst du immer viel zu viele Lebensmittel ein? Die du dann im Kühlschrank vergammeln lässt. Du wirfst kiloweise Lebensmittel weg. Dein Küchenchaos zeigt, mit welcher Gleichgültigkeit du mit Lebensmitteln umgehst. Kaum ist deine Küche aufgeräumt und geleert, häufst du wieder Waren auf.

Sie bejaht alle Forderungen. Beteuert, zu sparen. Obwohl ihr ein neuer Job lieber wäre. Die Drei verhöhnen sie: „In deinem Alter! Vergiss es endlich!“

Altersarmut. Altersarmut gleich Unfreiheit. Die Altersarme muss die Forderungen nicht nur beherzigen, sondern auch erfüllen, sonst, ja sonst … . Tränen des Selbstmitleids tropfen. Hätte ich doch … .Warum habe ich nicht … . Aber auch Widerworte explodieren im Gehirn. Ein Leben lang, ein Leben lang habe ich gearbeitet, am Anfang noch am Samstagnachmittag, bei 14-tägigen Ferien. Nach der Pensionierung hatte ich während 14 Jahren einen Geldjob. Nie wurde ich von einem Mann unterhalten. Und nun am Ende meines Lebens büsse ich für meine Unbescheidenheit. Ein Sprichwort ohne genaue Herkunft mahnt: „Bescheidenheit ist eine Zier“. Dem widerspricht Charles de Foucauld: „Bescheidenheit ist die schlimmste Form der Eitelkeit“. Auch dieses Wissen hilft nicht.

Als jung war sie arm und musste sich überlegen, am Abend entweder ein Sandwich zu essen oder ins Kino zu gehen. Als Geld zur Selbstverständlichkeit wurde, überlegte sie nicht mehr. Es erfüllte sie mit Freude, Freunde zu beschenken. Von Zuhause aus war sie es gewöhnt, zu reichhaltigen Essen einzuladen. Nach etlichen, sehr unangenehmen Zwischenfällen während Kinder- und Jugendzeit in Mietwohnungen wollte sie endlich so leben, wie es ihrer Mentalität entspricht: In einem Einfamilienhaus ohne Hausordnung, herumschleichendem Abwart und ewig reklamierenden Bünzlimitmietern. Ihre vier gemieteten Häuser kosteten sie, wie man auf Französisch sagt, „les yeux de la tête“.

In einem Land, in dem das Sicherheitsdenken an erster Stelle steht, gilt es als verantwortungslos, sich derart finanziell unbeschwert durch die Jahre zu wursteln. Man wirft ihr Disziplinlosig- und Gleichgültigkeit vor. Befände sie sich nicht in der Altersarmut, so könnte sie schalten und walten, ohne sich dauernd rechtfertigen zu müssen. Alt und arm: Abgehalftert und selbstverschuldet. Abhängig und bevormundet.

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