Stellen Sie sich vor: Sie sind alt (über 90), taub und fast blind, und Ihr Essen wird püriert, denn Ihr Gebiss ist zu gross geworden für das abgemagerte Gesicht. In Ihrer Rebellion schlagen Sie um sich, wenn Sie jemand waschen oder baden will. Kämmen lassen Sie sich auch nicht. Ihr Körper gehört Ihnen, Sie ertragen keinen Übergriff.
In einer Altersinstitution sind Rebellen unbeliebt. Sie stören den Tagesablauf, brauchen mehr Zeit als nötig, beleidigen, schreien, kratzen Wunden auf, schmeissen Essgeschirr und -besteck auf den Boden und versuchen, die Angestellten zu schlagen. Jüngere Betreuerinnen haben keine Nerven für solche Renitenten. Hausordnung und Computerberichte sind wichtiger als Menschen in seelischer Not.
Die beschriebene über 90-Jährige war ein Leben lang unabhängig und selbstbestimmt. Unverheiratet und kinderlos, arbeitete sie bis zur Pensionierung, legte Geld zurück, besass zwei Mehrfamilienhäuser. Nach der Pensionierung war sie eine leidenschatliche Porzellanmalerin, liess sich von einer Sekte einlullen und stellte eiserne Regeln für die Bewirtschaftung ihres Gartens auf. Als sie wegen ihrer Taubheit und weiterer Altersbeschwerden nicht mehr zu Hause leben konnte, stimmte sie problemlos einem Umzug ins Altersheim zu.Allerdings war sie überzeugt, dass es sich lediglich um einen zeitlich begrenzten Aufenthalt handeln würde.
Man stelle sich vor: Sie verstand nicht mehr, was im Allgemeinen und im Besonderen gesprochen wurde. Schrieben die Angestellten ihre Anliegen auf ein Stück Papier, konnte die alte Damen es kaum mehr lesen. Sie wurde unruhig und ungehalten. Verliess ihr Bett, fiel hin und verletzte sich. Die Zeit fehlte, um ihr ganzes Zimmer mit Schaumgummimatten auszulegen. Man flösste ihr Babynahrung und jede Menge Beruhigungtabletten ein. Niemand fuhr mit ihr ins Freie. Sie wurde bettlägrig und ihre Muskeln schwanden. Mit vollem Geist begriff sie ihre Lage, abhängig, hilflos einem System unterworfen zu sein, dessen Normen keine persönlichen Eigenheiten berücksichtigten. Sie wehrte sich mit Aggressionen, was die Pflegenden völlig überforderte. So wies das Heim sie in die psychiatrische Klinik des Universitätsspital ein. Ihre Nichte, die sie als einziger Mensch besuchte, erschrak, sie ans Bett angebunden zu sehen. Zudem war ihre Tante derart „verladen“, dass sie sprudelnde Freundlichkeiten von sich gab. Die Psychiarie konnte ihr nicht helfen, ihre Aggressivität konnte nicht therapiert werden. In diesem Alter wäre eine Psychotherapie eine blosse Geldverschwendung.
Nun ist sie wieder in der Altersinstitution. Jeden Tag wird sie im Rollstuhl in den Korridor geschoben, irgendwo abgestellt und der Rollstuhl wird blockiert. Sie bewegt sich unruhig hin und her und verlangt, in ihr Zimmer gebracht zu werden. „Nein. Sonst fallen Sie wieder hin. Hier haben wir Sie unter Kontrolle. Uns fehlt die Zeit, immer wieder in Ihr Zimmer zu kommen. Trinken Sie jetzt Ihr Wasser, bald gibt es Mittagessen“, brüllt eine Pflegende. Man spricht davon, sie in der Demenzabteilung unterzubringen.
(Es gibt unzählige alte Menschen in den Korridoren von Altersheimen, die nur noch aufs Essen warten, ungeduldig darauf warten, dass sie genährt werden. Einige Frauen sitzen bereits an den Esstischen und haben eine Puppe oder einen Teddybär auf dem Schoss. Ein Mann, eher Typ Herr, fällt auf, weil er viele Zeitungen auf seinen Rollator gepackt hat. Eine davon schlägt er am Esstisch auf. Verkehrt herum. Ein offensichtlich verwirrter Mann wird beim Abendessen [von Nachtessen kann man nicht sprechen, da die alten Leutchen es ja gewohnt sind – wirklich? -, sich mit den Hühnern schlafen zu legen und deshalb um 17 Uhr ihre letzte Mahlzeit bekommen!] von seiner Gattin besucht. Er schüttet seinen Milchkaffee [auch so ein alter Zopf] in die Untertasse, seine Frau giesst die Brühe zurück in die Tasse, er schüttet den Kaffee erneut in die Untertasse, sie giesst ihn in die Tasse und so fort. Selbst erlebt.)
Können Sie sich die Notlage der über 90-Jährigen vorstellen? Ist das nicht amtlich bewilligte Folter?

Lieber jung sterben nur nicht alt und krank werden und von anderen fremde oder Freunde versorgt sein!