7. Februar 2022 Doris Schöni 0Comment

Im Wald traf ich eine mittelalterliche Frau, die auf einer Bank sass. Ihre Augen schweiften ins Ungewisse. Ich fragte, ob ich mich setzen durfte, sie nickte. Ob es ihr gut gehe, erkundigte ich mich. Wieder nickte sie. Mit einer sonoren Stimme sagte sie: „Als ich heute aufwachte, war ich tot“. Verwirrt stellte ich fest: „Wenn man tot ist, wacht man doch nicht auf“. Sie nickte: „Ja, das verstehe ich nicht. Ich wachte auf, und zwar irgendwo“. „Wie irgendwo?“ Sie schwieg, fuhr dann aber weiter: „Ich befand mich in einer Art Lobby eines Hotels. Ein livrierter Angestellter fragte nach meiner Buchung. In meiner Tasche fand sich die Kopie einer Buchung, ich erinnerte mich aber nicht, sie ausgeführt zu haben.“ Die Frau fiel erneut ins Schweigen. Ich schwieg ebenfalls. Die Geschichte war mir unheimlich.

„Die Geschichte war mir unheimlich,“ flüsterte die Mittelalterliche. „Als Atheistin glaube ich doch nicht an ein Leben nach dem Tod.“ Ich starrte sie an: „Waren Sie tot oder lediglich bewusstlos?“ Sie: „Ja, wenn ich das wüsste. Also, ich füllte das Anmeldeformular aus und bekam die Zimmerkarte. Folgte dem Gepäckträger zum Lift in den fünfzehnten Stock und durch viele, lange Gänge. Er schloss eine Zimmertüre auf und da bin ich nun in meinem Hotelzimmer.“ „Liegt es am Meer,“ wollte ich wissen. „Nein, im Wald“, lautete ihre Antwort. Meine Frage: „Im Wald wie hier?“ Sie nickte und verfiel wieder in Stillschweigen.

„Im Wald wie hier,“ echote die tote Lebende, „dabei wäre ich lieber ans Meer gefahren“. „Und nun,“ fragte ich. Die Frau verfiel in eine Art Singsang: „Nun? Nun befinde ich mich dort, wo ich tot aufwachte.“ Ich entfernte mich lautlos.

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