Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs erhielt ich den ersten Ball meines Lebens. Es war ein hässlicher, brauner Hartgummiball. Ich liebte ihn heiss und trug ihn immer mit mir herum. Er war – mir scheint, ich habe schon über diese Geschichte geschrieben – meine erste Lebenserfahrung, dass Menschen böse sind. Dieser Eindruck hat sich sehr oft – auch in jüngster Zeit – bestätigt. Es ist die Geschichte jenes gedrungenen, mit einem Bürstenschnitt versehenen Primarlehrer, bei dem ich meinen geliebten Ball nach einer Woche Entzug abholen konnte (er hatte ihn meiner Schwester konfisziert). Ich stehe hilfesuchend im Eingangsraum seines Hauses, er erscheint…
Das Sprichwort „Schuster bleib bei deinen Leisten“ geht auf eine Anekdorte über Apelles (war einer der bedeutendsten Maler des antiken Griechenlands und des ganzen Altertums; er war ein Zeitgenosse Alexander des Grossen, geboren etwa 375–370 v. Chr., gestorben gegen Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr.) zurück. Danach hätte er sich gerne hinter seinen Bildern versteckt aufgehalten, um auf Urteile der Betrachter zu lauschen. Einst hätte ein Schuster bemängelt, die gemalten Schuhe hätten eine Öse zu wenig. Apelles habe das Bild korrigiert. Doch nun habe der Schuster auch etwas an den Schenkeln auszusetzen gehabt. Daraufhin habe Apelles ihm entgegnet: Was über…
Immer mehr trifft man in Wäldern mobile Hundeschulen, die auf nicht eingezäunten Feldern stattfinden. Eine Gruppe von etwa zehn Personen nimmt mit ihren Hunden daran teil. Es beteiligen sich etwa gleichviele Männer und Frauen, ihre Hunde könnten unterschiedlicher nicht sein: Eine zierliche Frau führt einen Dobermann mit einem metallenen Malkorb an der Leine, eine alte Frau schleppt sich mit einem kleinen, schwarz-weissen Hundchen der Gruppe nach, stramme Männer und zu allem entschlossene Frauen bemühen sich um ihre Hunde von wohl unbekannten Mischungen. Die Hunde müssen angeleint auf der linken Seite der Besitzer gehen. Ein strammer Mann schreit dauernd „links“ und…
Das Theater am Effinger inszeniert als Schweizer Erstaufführung das Schauspiel „Gott“ von Ferdinand von Schirach. Das Thema setzt sich mit der Frage des von einem Arzt begleiteten Suizides eines Lebensmüden auseinander. Exit (unter dem Namen Exit bestehen zwei voneinander unabhängige Schweizer Vereine, die sich für die Sterbehilfe einsetzen und diese in Form der Suizidbegleitung auch leisten) und Dignitas (Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben ist ein Schweizer Verein) leisten Sterbehilfe. Sie können jedoch nur in Anspruch genommen werden, wenn ein Sterbewilliger eine unheilbare Krankheit aufweist. Im Mittelpunkt des Stückes befindet sich ein bald achzigjähriger Mann, der nach dem Tod seiner Frau…
Nach einer über zwanzig Jahre dauernden Regentschaft ist Ihre Zeit um. Fast die ganze Welt wünscht Sie ins Pfefferland, Ihr Bild im TV ist nicht mehr zu ertragen, Ihr Pokerface verursacht Übelkeit. Die heutigen Generationen haben alte, autoritäre Männer in der Politik endgültig satt. Ihr augenblicklicher Feind, Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj, entspricht den Vorstellungen der Menschen des 21. Jahrhunderts. Er hat sich in der Politik nicht hochgehangelt und speichelgeleckt, er war Schauspieler, TV-Star und Filmproduzent, seine Frau ist in der Filmbranche tätig, sie ist attraktiv und keine Schattenfigur wie die biederen Ehefrauen der alten, toxischen Regierungschefs. Selenskyjs Reden an die ukrainische…
Wer das «Gesicht verliert», fühlt sich erniedrigt oder ausgegrenzt. Der Ausdruck kommt wahrscheinlich daher, dass man schamrot im Gesicht wird, wenn man das Gefühl hat, eine «Schmach» erlitten zu haben. In China geht es um mehr als ein gesellschaftliches Konzept: Bloss nicht das Gegenüber das Gesicht verlieren lassen. Wenn unsere Unwissenheit, Schwächen oder Makel plötzlich blossgelegt werden, schrieb Aurélie Faesch-Despont 2019, kann dies negative Emotionen hervorrufen. Wer das «Gesicht verliert», fühlt sich erniedrigt oder ausgegrenzt. Forschende im Bereich Psychologie und Neurowissenschaften sind sich einig: Fehler zu begehen kann zunächst als unangenehm empfunden werden, ist aber auch das Beste, was uns…
Eine solche Frage sollte man keinem Militärbegeisterten stellen. Nämlich die Frage, ob es eine neue Taktik wäre, wenn Zivilisten in einem angegriffenen Land sich überhaupt nicht verteidigen würden? Waffenlos, aber ohne weisse Fahne auf die Panzer zugehen, ohne von ihnen Notiz zu nehmen. Ob dann die Panzer schiessen würden, auf waffenlose Zivilisten ohne Uniform? Sind es nicht die Gechütze und Uniformen, die blutig angreifen und blutig zurück angegriffen werden? Wenn dann Gruppen von Menschen ohne Uniform und Waffen vor den Eroberen stehen, ihnen Kunsthandwerke aus der Ukraine schenken würden, ihnen Tee oder Kaffee und Sandwiches anbieten, und zwar ohne Unterwürfigkeit….
Autodafé („Urteil über den Glauben“) bezeichnet die feierliche, meist öffentliche Verkündung der Urteile der Prozesse der Spanischen oder Portugiesischen Inquisition. Die Vollstreckung der Urteile, insbesondere das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen, fand nicht im Verlauf der eigentlichen Autodafés statt, sondern später an einem anderen Ort. Zugegeben, der Titel ist falsch für den Inhalt, der folgend wird. Es geht darin nicht um die Verbrennung von Büchern, sondern um den Tod einer Frau im Feuer. Nein, es handelt sich auch nicht um die Ballade von Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898) „Die Füsse im Feuer“ mit der Schlusszeile „Mein ist die Rache, redet Gott.“ Die…